Familie klagt gegen Film über Vorfahren: Die ehrenwerten Martínez de Hoz
Mit einer Klage versucht eine argentinische Familie einen Film über ihre Vorfahren zu verhindern. Es geht um die Vernichtung der Urbevölkerung.
Wenn am Wochenende der Film „Awka Liwen“ von Osvaldo Bayer im Berliner Kino gespielt wird, dann könnte ihn und den Regisseur Mariano Aiello jede Vorführung eine hübsche Summe Geld kosten. Denn nach Auffassung einer der reichsten und einflussreichsten Familien Argentiniens vergrößert sich der „moralische Schaden“ an ihrem guten Ruf mit jeder Vorstellung. Im Februar 2011 reichte die Familie Martínez de Hoz Klage ein, und jede Vorführung erhöht die Entschädigungssumme.
„Die haben gedacht, sie könnten uns einen Schrecken einjagen. Solche Familien glauben noch heute, die Eigentümer Argentiniens zu sein“, sagt Mariano Aiello. Die Familie stört, dass der Film in Argentinien mit viel Interesse aufgenommen und zudem als Unterrichtsmaterial an den Schulen verwendet wird und damit der offiziellen Geschichtserzählung eine andere Version entgegensetzt.
„Awka Liwen“ – „Aufstand im Morgengrauen“ in der Sprache der Mapuche – schildert die Vernichtung der Urbevölkerung der Pampa und Patagoniens und den Raub und die Enteignung ihres Landes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. „Awka Liwen“ zeigt die Opfer und benennt die Täter. Der Film zeigt die Spur der Vernichtung und Vertreibung von damals über die grausame Militärdiktatur der 1970er Jahre bis in die heutige Zeit. „Awka Liwen“ erzählt von einem Argentinien, in dem Eigentum an Land einen immensen Reichtum geriert und in dem die Vertreibung der überlebenden Urbevölkerung von ihren letzten Ländereien heute weitergeht.
Wer diese Geschichte erzählt, kommt an der Familie Martínez de Hoz nicht vorbei. Vor allem zwei Familienmitglieder haben sich einen Platz im Geschichtsbuch Argentiniens gesichert: José Martínez de Hoz, der zum Eigentümer von 2,5 Millionen Hektar Land wird und als Mitgründer und erster Präsident der erzkonservativen Sociedad Rural Argentina die Interessen der Großgrundbesitzer, die nach Land gieren, durchsetzt.
Ein Fall von Zensur
Und José Alfredo Martínez de Hoz, der als erster Wirtschaftsminister der Militärdiktatur von 1976 bis 1981 für die Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik die Verantwortung trägt. Der heute unter Hausarrest steht und dem wegen des Vorwurfs der Entführung und Erpressung des Unternehmers Federico Gutheim und seines Sohnes Miguel Ernesto in den Jahren 1976 und 1977 der Prozess gemacht wird.
Konkret haben die beiden Enkel des Wirtschaftsministers der Diktatur, der gleichnamige José Alfredo und Alejandro Martínez de Hoz, gegen den Film geklagt. In der Klageschrift heißt es, der Film stelle „einen unrechtmäßigen, willkürlichen und boshaften Versuch dar, unser familiäres Ansehen zu entehren“. Bayer, Aiello und der Historiker Felipe Pigna sollen nicht nur eine Entschädigung von jeweils umgerechnet rund 180.000 Euro bezahlen, sondern sich auch mit Inseraten in den großen Tageszeitungen bei der Familie Martínez de Hoz entschuldigen. Aus dem Film selbst sollen alle Szenen entfernt werden, in denen eine Anspielung auf die Familie Martínez de Hoz erkennbar ist.
„Wir werden nicht einen Millimeter aus dem Film herausschneiden“, sagt Aiello. Sollte das gerichtlich dennoch durchgesetzt werden, wäre das ein klarer Fall von Zensur.
Und es wäre absurd: Das Filmmaterial, in dem der Urururgroßvater zu sehen ist, stammt aus dem Staatsarchiv (Archivo General de la Nación) und gelangte als Schenkung der Colección Martínez de Hoz der Familie dorthin. „Die konnten sich damals nicht vorstellen, dass es einmal in einem Dokumentarfilm dieser Art Verwendung finden würde“, ist sich der Regisseur sicher.
Beeindruckt vom Strum der Entrüstung
In erster Instanz wurde die Klage abgewiesen. Nach der erfolgreichen Berufung durch die Enkel landete die Klage trotz des in Argentinien praktizierten Losverfahrens pikanterweise beim Sala M des nationalen Zivilgerichts. Zwei der drei Richter vom Sala M wurden in den Zeiten der Diktatur eingesetzt. „Die stehen eindeutig auf der Seite der Familie“, so Aiello. Der Sturm der Entrüstung über das juristische Vorgehens, an dem sich auch ein Mitglied des Obersten Gerichtshofes beteiligt hatte, muss die Richter vom Sala M jedoch beeindruckt haben.
Bisher vergeht nur die Zeit, herrscht in der Angelegenheit Stillstand. Richter können in Argentinien mit einem politischen Prozess ihres Amtes enthoben werden. Und der politische Wind bei der Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen der Diktatur hat sich gedreht. „Die sind in der Zwickmühle und wollen es sich mit keiner Seite verderben.“ Bewegung in die Sache könnte durch Osvaldo Bayer und Mariano Aiello selbst gebracht werden. Mit der Klage als aktuellem Aufhänger bereiten sie ihren nächsten Film vor. Im dessen Zentrum wird die ehrenwerte Familie Martínez de Hoz stehen.
„Awka Liwen – Aufstand im Morgengrauen“, Sa. und So.18.30 Uhr im Lichtblick-Kino, Berlin-Prenzlauer Berg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?