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Archiv-Artikel

Falsche Frauen

In hässlichen Welten: Kate Atkinsons Roman „Die vierte Schwester“

Mit den Worten „falsches Leben, falsche Männer, falsche Träume“ hat die schottische Schriftstellerin Kate Atkinson einmal die Frauenfiguren ihrer Bücher charakterisiert. Die Worte waren gut gewählt für die meisten der desillusionierten und antriebslosen, nicht zu im Wortsinn richtigen Akteurinnen taugenden Alltagsmaschinen aus ihren letzten Romanen (deutsch: „Ein Sommernachtsspiel“, „Die Ebene der schrägen Gefühle“) und Erzählungen („Nicht das Ende der Welt“).

Nun liegt ihr neuer Roman, „Die vierte Schwester“, auf Deutsch vor, und für den kann man Atkinsons Charakterisierung ohne größere Probleme beibehalten und gar um den Begriff „falsche Frauen“ ergänzen. Denn dieses Mal bleibt es nicht bei unerfüllten Wünschen und zerstörten Zukunftsfantasien, teilweise sind nicht mal mehr die Identitäten und Biografien der Protagonistinnen in der Gegenwart echt.

Im Zentrum der in und um Cambridge, Großbritannien spielenden Geschichte steht Jackson Brodie, ein in die Jahre und etwas heruntergekommener Privatdetektiv, der das Rätsel des vor 30 Jahren verschwundenen, damals dreijährigen Mädchens Olivia lösen soll. Deren Schwestern Amelia und Julia beauftragen ihn, als sie nach dem Tod des Vaters in dessen Nachlass Olivias ebenfalls seit Jahrzehnten vermisstes Kuscheltier „Blaue Maus“ entdecken.

Schnell erfährt Jackson die Vorgeschichte des Falls, und genauso schnell findet er sich auf den Spuren von Atkinsons unverwechselbarem Personal wieder. Da ist die älteste Schwester Sylvia, früher der Wirbelwind der Familie, heute eine sprachlose Nonne; da ist die früh verstorbene Mutter Rosemary, die ihren Mann hasste und ihren Kindern gleichgültig begegnete; da ist Vater Viktor, ein Mathematiker, erfüllt von „den galligen Gefühlen seines alltäglichen Lebens, das er in einem Haus voller Frauen verbrachte, die Fremde für ihn waren“; da ist die vom Sex getriebene, frustrierte Julia, und da ist die seit Jahren ohne Sex lebende und genauso frustrierte Amelia.

Der Fall Olivia ist nicht der einzige, den Jackson verfolgt. Doch wer angesichts all der depressiven, tristen, ge- und zerstörten Gestalten aus Olivias Familie bei seinen anderen Klienten auf vitale, fröhliche oder zumindest halbwegs normale Figuren hofft, wird rasch enttäuscht. Der Anwalt Theo sucht den Mörder seiner Tochter Laura, die in seiner Kanzlei erstochen wurde, als er nicht da war. Er kann sich seine damalige Abwesenheit nicht verzeihen und verwandelt seine Wohnung seit ihrem Tod in ein Archiv des Mordfalls. Der Rest der Welt ist für ihn nichts anderes als „ein gefahrvoller Ort.“ Und Jacksons andere Mandantin Shirley hofft, über Jackson auf die Fährte ihrer Nichte Tanya zu kommen, die sie aus den Augen verlor, als ihre Schwester Michelle dafür verurteilt wurde, Tanyas Vater mit einer Axt erschlagen zu haben.

Nicht nur wegen Mord und Totschlag, auch ganz praktisch hat Jackson es schwer, seinen Auftraggebern, und dabei besonders den Schwestern, gerecht zu werden: „Obwohl Olivias Fall niemals offiziell abgeschlossen worden war, lebte kaum noch jemand, der ihn bearbeitet hatte. Es war vor den Tagen von schlauen DNA-Tests und psychologischen Profilen und Computern gewesen. Wenn sie jetzt entführt würde, wäre die Chance, sie zu finden, größer. Vielleicht.“ Die anderen Taten liegen ebenfalls lang zurück, sodass neue Zeugen oder neue Spuren nicht zu erwarten sind, sondern nur Gespräche mit den noch lebenden Psychowracks, die sich nicht erinnern können oder wollen, weitere Erkenntnisse bringen.

Jacksons schmerzhafte Erinnerung an seine ermordete Schwester Niamh macht ihm die Arbeit auch nicht leichter, wobei man auf diese Episoden gut verzichten könnte. Sie wirken schlecht konstruiert und leidenschaftslos erzählt, und wo Atkinson ihren anderen Figuren in einer negativen Seifenopernwelt ein schlechtes, aber solides Zuhause gegeben hat, werden hier billige Kulissen aus einer heilen Welt, die nicht sein durfte, aufgestellt.

„Die vierte Schwester“ enthält reichlich viel Handlung. Am Ende sogar zu viel. Wäre das Buch nichts anderes als ein Pageturner ohne großen Anspruch, so hätte sich Atkinson darauf beschränken können, Jacksons Fälle nach und nach aufzulösen und die restliche Kraft in ein liebevolles, rundes Ende zu stecken. Doch ihre literarischen Welten gehören nicht zu den schönsten aller möglichen, sondern kommen den hässlichsten verflixt nahe. Eine Versöhnung aller mit allen ist höchstens im Grab möglich. Unter den Lebenden aber kann sich nur der glücklich schätzen, der der Familie, dieser „grundsätzlich schändlichen und tyrannischen Institution“ (Atkinson), entkommen ist.

MAIK SÖHLER

Kate Atkinson: „Die vierte Schwester“. Aus dem Englischen von Anette Grube. Verlag Droemer Knaur, München 2005. 400 Seiten, 19,90 Euro