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Fall Stephan: Nazirecht ist Bundesrecht

Weil die Nationalsozialisten Ilse Stephan im Jahre 1944 als „arbeitsscheu“ ins Konzentrationslager sperrten, erhält sie bis heute keine Rente als politisch Verfolgte  ■ Aus Bremen Klaus Wolschner

In der vergangenen Woche erhielt Ilse Stephan vom Bonner Finanzministerium die Mitteilung, daß sie nicht „Verfolgte des Naziregimes“ im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes sei und deshalb keinen Anspruch auf die entsprechende Rente habe. Der Rechtsgrund ist einfach: Die Nazis steckten sie 1944 ins KZ mit der Begründung „arbeitsscheu“.

Wer als „arbeitsscheu“ klassifiziert wurde, ist nicht politisch verfolgt gewesen, so ist die Rechtslage auch in der Bundesrepublik 50 Jahre danach. War Frau Stephan wirklich „arbeitsscheu“? „Ach was“, erklärte Herr Oldenburg, der zuständige Referent des Bundesfinanzministeriums, gestern gegenüber der taz, „das war von den Nazis vorgeschoben.“ Daß sie von den Nazis so eingestuft wurde, „das ist natürlich nicht in der heutigen Terminologie zu verstehen.“ Was am Ergebnis seiner Antragsprüfung nichts ändert: „Für Personen, die – wie im vorliegenden Fall – wegen ,Arbeitsverweigerung‘ inhaftiert waren, treffen die ... Verfolgsgründe nicht zu...“ (aus dem Ablehnungsbescheid vom 20. Mai 1994). Denn, so erläutert der Referent Oldenburg die bundesdeutsche Rechtslage: „Es geht nur um die Motivation der Verfolger.“

Als älteste von elf Geschwistern hatte Ilse Stephan 1944 unter der Knute ihres strengen Vaters drei Jobs, um für den Lebensunterhalt von dessen Familie zu schuften, als die Nazis sie für die Rüstungsindustrie requirieren wollten. Der Vater entschied kurzerhand, daß sie da nicht hinzugehen hatte. Deswegen wurde sie von den Nazis verhaftet.

Am 21. Juli 1944 kam Ilse Stephan – es war ihr 24. Geburtstag – mit einem Transport ins KZ Ravensbrück. „Die SS fragte: Wann bist Du geboren?“, erinnert sie sich. Ihre Antwort: „Am 21. 7. 1920. Zack – kam das Blut aus der Nase. Wann bist Du geboren, du Schwein? Am 21. Juli 1920. Zack – und das ging zehnmal so, bis mir das Blut heruntergelaufen ist, und dann haben sie gesagt: So, das ist dein Geburtstagsgeschenk, du Drecksau. Das war meine Aufnahme in Ravensbrück.“ Ilse Stephan wurde später nach Bergen- Belsen verlegt.

Heute ist sie die letzte deutsche Überlebende aus den Hunger- und Seuchenmonaten in Bergen-Belsen. „Jahrelang habe ich über diese Erlebnisse nicht gesprochen, weil ich Angst hatte, daß das in mir selber hochkommt“, sagte sie in Bremen bei der Vorstellung eines Buches über „Frauen in Konzentrationslagern“ (Edition Temmen), in dem erstmals auch ihre Lebensgeschichte erzählt wird. Beinahe wäre sie ins KZ-Bordell abkommandiert worden. Bis auf die Knochen abgemagert und verhungert klopfte sie im Herbst 1945 zu Hause an – so entstellt, daß ihr Bruder an der Tür fragte: „Guten Tag, was wollen Sie?“

Ilse Stephan lebte nach 1945 wieder in Thüringen. Auch von der DDR wurde sie nicht als politisch Verfolgte anerkannt. Gleichwohl erhielt sie später von der Post der DDR 38 Auszeichnungen für ihre außerordentlich gute Arbeit.

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