"Fairkaufhaus" in Spandau: Ein Warenhaus für die Seele
Im "Fairkaufhaus" in Spandau arbeiten Menschen, die aus psychischen Gründen eigentlich nicht arbeiten können. Die Einrichtung bedeutet für sie soziale Teilhabe oder die Vermeidung von Klinikaufenthalten.
Es herrscht Hochbetrieb im Fairkaufhaus: Ein Paar mittleren Alters stellt fünf Plastiktüten mit Kleiderspenden ab, an ihnen vorbei drängt sich ein Mann mit gerade erstandenem Kinderwagen zur Tür hinaus, und an der Kasse erkundigt sich eine Kundin nach einem Autor, den sie in der Bücherabteilung nicht finden konnte. Hinter dem riesigen Kassentresen steht Guntram Müller* und zuckt mit den Schultern: "Das ist ein ganz normaler Tag hier." Der große, stämmige Mann mit strubbeligen, angegrauten Haaren und einem Ohrring wirkt wie ein ruhender Pol in all dem Trubel. Freundlich bedient er die Kunden an der Kasse, wechselt die gedämpft aus den Lautsprechern klingende Musik und bittet nebenbei eine eintretende Frau, ihren Hund draußen anzuleinen. Ganz normaler Kaufhausalltag.
Doch so ganz "normal" ist dieses nur wenige Gehminuten vom Spandauer Rathaus entfernte Gebrauchtwarenkaufhaus mit mehr als 400 Quadratmetern Verkaufsfläche nicht: Um die Annahme von gespendeten Kleidungsstücken und Schuhen, Büchern, Möbeln, Haushalts- und Elektrogeräten, deren Aufbereitung und Weiterverkauf kümmern sich hier rund 50 psychisch kranke Menschen. Unterstützt werden sie von einem sechsköpfigen Betreuerteam. Der Name Fairkaufhaus habe dabei einen dreifachen Hintergrund, erläutert Leiterin Katrin Faensen: "Wir sind zum einen fair gegenüber der Umwelt, indem wir die Weiterverwendung von gut erhaltenen Dingen ermöglichen. Zum anderen aber auch gegenüber den Kunden, denn wir bieten ihnen günstige Preise und Konditionen." So können GeringverdienerInnen eine "Fairkaufcard" beantragen und 30 Prozent Vergünstigung auf alle Produkte erhalten.
Zentral sei jedoch die Fairness gegenüber psychisch kranken Menschen: "Das Kaufhaus gibt ihnen die Möglichkeit zu einer durchwegs sinnvollen Beschäftigung", so Sozialtherapeutin Faensen. Auf dem ersten Arbeitsmarkt gebe es für die MitarbeiterInnen, die etwa mit Depression, Schizophrenie oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leben, oftmals keine Chance. "Hier aber können wir uns auf die individuellen Bedürfnisse, lange Fehlzeiten oder den Betreuungsbedarf einstellen", erklärt Faensen. Für wen etwa ein herkömmlicher 8-Stunden-Arbeitstag ein unüberwindbares Hindernis darstellt, der kann in Spandau etwa eine dreistündige Schicht übernehmen.
Bundesweit will die Woche der Seelischen Gesundheit zwischen 4. und 10. Oktober Aufmerksamkeit für die Belange von Menschen mit psychischen Erkrankungen schaffen.
In Berlin stellen die Initiatoren, zu denen auch die Senatsverwaltung für Gesundheit zählt, in diesem Jahr das Thema "Seelische Gesundheit in der Arbeitswelt" in den Mittelpunkt. Hierfür öffnen zahlreiche Berliner Einrichtungen für psychisch erkrankte Menschen ihre Türen und laden die Öffentlichkeit zu Kunstausstellungen, Fachgesprächen, Theater- und Filmvorführungen oder Workshops ein.
Infos: www.aktionswoche.seelischegesundheit.net
Das Spandauer Fairkaufhaus feiert am Donnerstag zwischen
10 und 18 Uhr seinen "Tag der offenen Tür" und zeigt den Dokumentarfilm "Drei Menschen und ein Kaufhaus", der das Projekt vorstellt (15 Uhr). Adresse: Altonaer Straße 6-8, 13581 Berlin-Spandau
Der Bedarf für das Angebot des im September 2007 gegründeten Projekts ist gegeben: Allein in Spandau mit seinen rund 220.000 EinwohnerInnen zählt das Fairkaufhaus bis zu 1.800 Menschen, die chronisch psychisch krank sind. Auch unter den Erwerbstätigen steigt die Zahl der psychischen Belastungen. Auf solche sind laut einer kürzlich vorgelegten Studie der Bundespsychotherapeutenkammer inzwischen 11 Prozent aller Krankschreibungen in Deutschland zurückzuführen, Tendenz steigend. Und in ihrem Basisbericht 2009 zählt die Senatsverwaltung für Gesundheit knapp 3.000 Frühberentungen aufgrund von psychischen und Verhaltensstörungen. "Die Beschäftigung im Fairkaufhaus ermöglicht psychisch kranken Menschen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben", verdeutlicht Kaufhausleiterin Faensen.
Denn dieses ist im Fairkaufhaus tagtäglich präsent, anders als etwa in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, wo diese meist unter sich bleiben. "Das hier ist ein realer Arbeitsplatz mit realen Kunden, die rege von unserem Angebot Gebrauch machen", betont Ergotherapeutin Sabine Reichhelm. Tatsächlich hängen an zahlreichen Waren Schilder mit der Aufschrift "Ich bin schon vergeben", gerade sind ein Hochbett für 150 Euro und eine Espressomaschine für 20 Euro verkauft worden. Alle laufenden Kosten wie Miete, Heizung oder die Aufwandsentschädigungen für die beschäftigten Klienten finanziert das Kaufhaus aus seinen Einnahmen selbst und schreibt damit schwarze Zahlen. Die Personalkosten für die BetreuerInnen werden durch die vom Bezirk erbrachte Eingliederungshilfe getragen.
Betreuung ist auch die Haupttätigkeit von Ergotherapeutin Reichhelm: "Ich führe mindestens zweimal am Tag ein Krisengespräch, wenn etwa jemand weint oder Differenzen moderiert werden müssen." Die wenigsten hätten gelernt, ihre Konflikte selbst zu führen - in Ermangelung eines sozialen Umfelds, in das sie fest eingebunden sind. Guntram Müller bestätigt das: "Lange Zeit konnte ich nicht so gut mit Menschen. Das Fairkaufhaus ist für mich auch ein Ort, um wieder mit anderen klarzukommen, mit den Kunden, den unterschiedlichen Mitarbeitern und den Vorgesetzten." Die Arbeit an der Kasse ist wohl die größte Herausforderung: korrekt kassieren, die Fragen von KundInnen beantworten und zwischendrin schnell neues Bonpapier im Büro besorgen - Müller hat viel zu tun.
Etwas ruhiger geht es im Untergeschoss zu, in dem die Logistikabteilung liegt. Dank der früheren Funktion der Räumlichkeiten als Supermarkt verbindet ein großer Lastenaufzug den Verkaufsraum mit dem Lager im Keller. Eingegangene Spenden kommen hier an und werden zunächst nach Art und Beschaffenheit sortiert: vor allem Berge von Kleiderspenden. Ein hauseigenes Transportteam leert drei Altkleidercontainer des Roten Kreuzes, bis zu einer halben Tonne Klamotten gelangen so jede Woche ins Fairkaufhaus. Unbrauchbare Stücke werden wieder abgegeben und für die Polsterung von Autositzen zerschreddert oder nach Übersee verschifft, das meiste jedoch wird für den Verkauf hergerichtet. So laufen auch jetzt je zwei Waschmaschinen und Trockner auf Hochtouren, daneben stehen vier Bügeleisen bereit, ein halbes Dutzend prall mit Hosen, Kleidern, Jacken und Hemden gefüllter Trolleys verspricht jede Menge Arbeit.
Rückzug im Untergeschoss
Zwischen Kinderwägen und Kisten voller Geschirr steht ein Computer, an dem MitarbeiterInnen per Internet adäquate Preise für die Produkte recherchieren können. Manchmal genügt dafür aber auch ein beratschlagendes Gespräch: Mitarbeiterin Martha Schubert* zeigt auf einen Globus, der vor ihr steht, und winkt eine Kollegin heran. "Der ist noch unbenutzt, da hängt sogar noch der Garantiezettel dran. Wie viel sollen wir verlangen? 90 Euro?" Die zu Rat gezogene Frau fragt entsetzt zurück: "Um Himmels willen, wer soll das denn ausgeben? Da ist ja noch die DDR drauf!" Schließlich einigen sich die Frauen auf 20 Euro - "pro Jahr nach der Wiedervereinigung 1 Euro".
Das Untergeschoss ist Rückzugsraum, fernab von Kundentrubel und Verkaufsalltag. "Hier sind wir unter uns", sagt Sabine Reichhelm. "Wem es schlechter geht, der kann sich einfach auf die Couch legen oder auch mal verrückt sein, das geht hier alles." Auch die Tätigkeiten hier unten entsprächen den Fähigkeiten und Bedürfnissen einiger Mitarbeitender mehr als etwa die im Verkauf oder beim Transport: "Bügeln ist eben etwas sehr Meditatives, das beruhigt, wobei man viel im Stehen arbeiten muss und einen gewissen Zugang zu Kleidung braucht", so die dienstälteste Mitarbeiterin des Projekts, die das Konzept mitentwickelte. So vielfältig die Klienten sind, so verschieden seien auch ihre jeweiligen Ziele: Einige fänden über das Fairkaufhaus tatsächlich eine Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt. "Bei vielen chronisch Kranken, die schon viele Jahre im psychiatrischen System sind, geht es aber eher darum, die oft langwierigen Klinikaufenthalte zu vermeiden und einen gewissen Status Quo zu halten", so Reichhelm.
Im Erdgeschoss hat sich mittlerweile der Trubel etwas gelegt. Ein Mann in feinem Anzug und mit dichtem Schnauzbart stöbert durch den Krawattenständer, eine ältere Dame im Blazer nimmt ein Buch aus dem Regal und schmökert darin. Verkäufer Matthias Kern* verschafft das eine Verschnaufpause. Der 62-Jährige legt seinen Arm auf einen Kleiderständer und lässt den Blick durch das Geschäft schweifen. Seit der Gründung vor drei Jahren ist er im Fairkaufhaus dabei. "Da hat man natürlich so einige Höhen und Tiefen miterlebt." Zu Letzteren zählt er die alljährlichen Sommerlöcher. Insgesamt ist er aber zufrieden mit seiner Arbeit: "Es macht Spaß und ist allemal besser, als mit der Flasche auf der Straße zu sitzen."
*Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten