Fahrradtraining für erwachsene Frauen: Freiheit auf zwei Rädern
Fahrradfahrende werden Teil der Stadtcommunity, aber nicht alle fahren seit ihrer Kindheit. Ein Verein vernetzt Frauen, die es lernen wollen.
Den linken Fuß noch auf dem grauen Kiesweg, tastet Ayah (Name geändert) mit ihrem rechten Fuß nach dem Pedal. Er rutscht ab, das Pedal flattert um die eigene Achse. Konzentriert dreht Ayah das rechte Pedal mit ihrem Fuß wieder nach oben. Sie setzt den rechten Fuß auf, drückt das Pedal kraftvoll durch, hebt den linken Fuß vom Boden, stellt sich in die Pedale. Dann beginnt sie langsam zu treten. So wurde ihr das Losfahren mit einem Fahrrad erklärt: Schritt für Schritt, Tritt für Tritt.
Ayah ist 18 Jahre alt und geht noch zur Schule. Sie lebt mit ihrer Familie seit zweieinhalb Jahren in Deutschland, nachdem sie den Irak verlassen mussten. Diesen Sommer will sie im Friedenspark im Leipziger Osten Radfahren lernen. In einem achtwöchigen Angebot des Projekts Bike & Belong können hier rund ein Dutzend Frauen* Fahrradfahren lernen. Jede Woche treffen sie sich und üben zwei Stunden lang mit ehrenamtlichen Trainer:innen.
Das Angebot kommt vom 2017 in Freiburg gegründeten Verein Bike Bridge. Shahrzad Enderle, eine Sportwissenschaftlerin aus Freiburg, hatte bemerkt, dass sich auf dem Hof einer Unterkunft für Schutzsuchende nur Kinder und Männer aufhielten. Sie wollte daraufhin ein Angebot schaffen, das auch Frauen* aus der Unterkunft verbindet, indem sie gemeinsam Radfahren lernen. Mittlerweile hat Bike Bridge in Deutschland acht Standorte. Seit 2022 sitzt der Verein in Leipzig und bietet Übungen auf Anfängerinnen- und Fortgeschrittenen-Niveau sowie einen Kurs an einer Schule an.
Im Irak fahren Frauen kein Fahrrad
Beim Kurs im Leipziger Friedenspark bittet Ayah mich, ihr zu helfen. Ich halte sie hinten am Sattel und an der Lenkermitte fest. Immer wieder versucht sie loszufahren. Gleichmäßig treten, den Körper auf den Sattel absenken, den Blick von den Füßen heben: so viele Bewegungsabläufe, denen sich routinierte Radfahrer:innen gar nicht mehr bewusst sind. Doch Radfahren zu lernen jenseits des Kleinkindalters ist eine riesige Herausforderung.
Wenn man Ayah danach fragt, warum sie den Kurs besucht, antwortet sie: „Heutzutage ist es nicht so normal, dass Frauen im Irak Fahrrad fahren“, und fügt hinzu, dass es für unsere Welt ja besser sei, als Auto zu fahren.
Laut Judith Beigel, Projektleiterin von Bike & Belong in Leipzig, zeige die Praxis, dass es oft Frauen* mit Migrationserfahrungen wie Ayah sind, die das Angebot wahrnehmen. Denn „die meisten Frauen, die hier schon ewig leben oder hier geboren sind, haben als Kind Fahrradfahren gelernt“. Offen seien die Angebote aber für alle Personen, die sich als Frau definieren.
Dass die meisten Menschen, 97 Prozent, in Deutschland Radfahren können, bestätigt auch die Studie „Fahrradfahren in Deutschland“ aus dem Jahr 2016, die vom Fahrradhersteller Rose Bikes in Auftrag gegeben wurde. Mehrere Teilnehmer:innen des Bike-&-Belong-Angebots erzählen davon, das Gefühl zu haben, alle anderen um sie herum würden Fahrrad fahren. Mit dem Radfahren lernen sie etwas, wodurch sie sich in öffentlichen Räumen ihrem Umfeld zugehöriger fühlen können.
Zwischendurch, zu Beginn und zum Abschluss des Angebots, finden sich die Frauen* in einer Runde auf der Wiese zusammen. Sie teilen sich Essen, spielen Spiele und erzählen einander von sich: Arabisch, Französisch, Deutsch, Englisch und Spanisch sind nur ein Teil der verschiedenen Sprachen, die hier gesprochen werden. Sie treffen aufeinander, aber werden nicht zum Hindernis: Fürsorglich wird bei Verständnisproblemen mit Übersetzungen nachgeholfen.
40 000 Radler in Leipzig
Nachdem ich Ayah beim Losfahren stütze, beginnt sie zügig zu treten. Dann wünscht sie sich, dass ich loslasse. Die Hand zur Sicherheit noch hinter Ayah, renne ich nebenher. Ayah fährt Fahrrad. Nachdem sie von einer Wegkreuzung zur nächsten gefahren ist, hält sie an, macht noch ein paar Schritte, bis der übrige Schwung einkehrender Ruhe weicht. Ihr Gesicht strahlt.
Mit Ayah wird fortan eine Person mehr durch Leipzig radeln. Laut Auskunft der Stadt Leipzig fahren allein an den elf installierten Fahrradzählstellen in der Innenstadt im Sommer täglich rund 40.000 Menschen vorbei. Diese Zahlen zeigen: im flachen, grünen Leipzig ist Radfahren eine wichtige Alltagskompetenz. Durch Bike & Belong können mehr Menschen diese Fähigkeit erlangen. Judith Beigel erzählt von der Vision des Vereins, das Stadtbild „diverser zu machen“. Es gehe darum, dass Menschen „Teil der Stadtcommunity“ werden können, weil sie sich bewegen wie alle anderen auch. Außerdem schenkt Radfahren Mobilität, ohne auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein.
Weil die Fahrradgruppe durchmischt ist von Menschen mit und ohne Migrationserfahrung, die verschiedene Sprachen sprechen, ist Bike & Belong ein integratives Projekt. Doch es werde laut Judith Beigel vermieden, von Integration zu sprechen, um nicht das Narrativ zu bedienen, integrative Projekte seien einseitiges Handeln für bedürftige Menschen. Der Fokus solle nicht darauf liegen, etwas für andere Menschen zu machen. Es gehe vielmehr darum, im Miteinander voneinander zu lernen und partizipative Räume zu schaffen.
Auch Sylvia Gössel, Mitarbeiterin des Referats für Migration und Integration der Stadt Leipzig, findet „niederschwellige Projekte rund um Empowerment und Begegnung“ im Bereich Integration sinnvoll. Es sei ideal, wenn die Projekte auf Partizipation ausgelegt und bedarfsorientiert sind. Das bedeutet, es sollte sich um Aktivitäten handeln, „die die Menschen auch brauchen“.
Fahrräder werden selbst repariert
Zwei Wochen später erzählt Ayah, dass sie sich mit dem Rad nur im Straßenverkehr noch unsicher fühle. Sie nimmt jetzt auch am Programm für Fortgeschrittene des Bike-&-Belong-Projekts teil. Dort lernen Ayah und die anderen neben dem tatsächlichen Radfahren auch Verkehrsregeln, um sich bei Begegnungen mit anderen Verkehrsteilnehmer:innen sicher und regelkonform verhalten zu können.
Die verwendeten Räder stellt dabei Bike Bridge. Immer wieder spenden Privatpersonen Räder, die dann in Reparaturworkshops mit den Teilnehmer:innen repariert und auf Fahrtüchtigkeit geprüft werden. Die Teilnemer:innen können sie gegen einen Eigenbeitrag von 25 Euro mitnehmen.
Die Stimmung ist gut, als die Teilnehmer:innen und Trainer:innen der Fortgeschrittenen-Gruppe am Ende wieder zusammenkommen. Auf die Frage, wie es ihnen heute gefallen hat, recken sie kollektiv ihre Daumen gen Himmel. Die Teilnehmer:innen, die regelmäßig kommen, können am Ende der acht Termine Fahrrad fahren. Manche wollen das Radfahren im Alltag nutzen, andere fahren erst mal gar nicht – aber sind sich bewusst über ihr Können. Auch dieses Wissen allein kann empowernd wirken, wie sich an den glücklichen Gesichtern der Teilnehmer:innen ablesen lässt.
Ayah jedenfalls will weiterfahren. Sie möchte sich unbedingt eines der Räder aus dem Reparaturworkshop kaufen. Auch sie wird künftig die Sensoren an den Fahrradzählstellen in Leipzig auslösen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus