Fahrplanwechsel in Brandenburg: Den Speckgürtel weiter schnallen

Seit dem Fahrplanwechsel fährt alle 20 Minuten ein Zug von Frankfurt (Oder) nach Berlin. Zumindest theoretisch.

Ein Zug wird kommen, bloß nicht alle 20 Minuten: Regionalexpress auf dem Weg nach Frankfurt (Oder) Foto: picture alliance/dpa | Patrick Pleul

Juhu! Der 11. Dezember, der Tag des Fahrplanwechsels im Bahnverkehr, war ein großer Tag für Ostbrandenburg – das ist diese weite Fläche mit Kiefernwäldern und Anger-Dörfern von hinterm Ostkreuz bis nach Polen. Von dort schreibe ich euch jetzt jeden Monat. Aus dem kleineren Frankfurt an der Oder, an der Grenze zum polnischen Słubice rufe ich euch zu: Lasst uns den Speckgürtel nicht enger, sondern weiter schnallen.

Wir sind hier jetzt fast Vorort von Berlin, seit dem Fahrplanwechsel. Zu den Hauptverkehrszeiten sollen alle 20 Minuten Züge bis in die Hauptstadt Berlin fahren statt im bisherigen Halbe-Stunde-Takt. Ost-Frankfurt wird also praktisch das neue Erkner.

Zumindest ist das die Theorie. Denn natürlich geht so ein Neuanfang nicht ohne Kinderkrankheiten vonstatten: Züge in Fahrplan-Apps werden nicht angezeigt, dafür gibt es immer noch Ersatzbusse und Verspätungen, die vor allem durch den hohen Krankenstand bei den Eisenbahnunternehmen bedingt sind. Und die Mobilfunklöcher unterwegs konnte auch das Bahnunternehmen Odeg nicht stopfen, das jetzt den RE1 zwischen Frankfurt und Brandenburg an der Havel bedient. Immerhin, im Laufe des Januars, hieß es nach einem Krisentreffen Ende vergangener Woche, soll der anivisierte 20-Minuten-Takt nach Berlin dann auch tatsächlich umgesetzt werden.

Wir − es ist übrigens ein diffuses Wir, so divers wie euer Ihr dort in der Großstadt − halten uns trotzdem lieber an die direkte Nachbarschaft. Man ist skeptisch hier gegenüber Fremdem. Die tägliche Grenzüberschreitung klappt dafür schon gut. Die Europa-Öffnung gen Osten in den letzten 30 Jahren hat viel bewirkt. Hunderte Familien, Tausende Menschen nutzen jeden Tag die Stadt-, Eisenbahn- und Autobahnbrücke. Von der Wohnung zur Schule, nach der Arbeit zum Einkaufen.

Die Doppelstadt bewirbt sich gerade um das bundesdeutsche Zukunftszentrum: Die Stadt Frankfurt will es direkt an der Grenzbrücke errichten und mehr Wissenschaft, Kultur und Begegnung zu den Themen deutsche Einheit und europäische Transformation anlocken. Słubice ist dafür.

Die Brücken bleiben abstrakt

Der Kampagnenslogan „Stadt der Brückenbauer*innen“ hat zwar schon Versöhnungsakteure zum Lachen gebracht, weil zuletzt zwei Brücken abgerissen wurden – immerhin: Eine wird saniert. Im abstrakten Sinne stimme das Motto aber, sagte mir jüngst Krzysztof Wojciechowski, der das Collegium Polonicum als gemeinsame Institution der Unis Frankfurt und Poznań aufgebaut hat: In unserer Doppelstadt herrsche europäisches Flair, das aber meist die Besucher vor uns Einwohnern selbst erkennen.

Auch europaweite Polarisierungstendenzen sind allgegenwärtig: Zwei Regionen grenzen hier aneinander, die jeweils als abgehängt und regierungskritisch gelten. In Lubuskie fühlt man sich von Warschau vernachlässigt, viele sind hier gegen die rechte PiS-Partei. In Ostbrandenburg feiert hingegen die rechtspopulistische AfD Erfolge. Jüngst schlug mir ein Ur-Słubicer die Rückeingemeindung seiner Stadt und umliegender Dörfer zur Stadt Frankfurt vor, bis 1945 war es ja eine Stadt gewesen: „Wir sind uns doch so ähnlich“, meinte er, sogar in der Skepsis gegenüber „denen da oben“.

Die Idee eines eigenen Grenzraums klang kurzzeitig ernsthafter an: auf Demos im Frühjahr 2020 beiderseits der Oder mit der Forderung nach Ausnahmeregelungen, damit Grenzschließungen wie durch die Pandemie bedingte nie wieder Tausenden Grenzpendelnden die Existenzen zerstören können. Keine „Eingemeindung“ natürlich, die würde historische Traumata anheizen (Stichwort: Reparationen!). Aber die Erkenntnis ist die: Diese Region funktioniert nur zusammen.

Ost-Frankfurt wird also praktisch das neue Erkner. Aber wollen wir in der Grenzregion überhaupt Vorstadt sein?

Frank­fur­te­r*in­nen filmten für Socialmedia den letzten RE1 der Deutschen Bahn und den ersten Odeg-Zug. Jeder schnelle Berlin-Besuch zeigt uns derweil: Die Metropole kommt auch ohne uns klar. Die Grenzregion aber braucht uns Menschen hier, sonst braucht’s auch keine Zukunftszentren. Kurz: Wir wollen gar nicht Vorstadt sein, lächeln wir trotzig.

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Jahrgang 1988, freie Autorin, wohnhaft in Frankfurt (Oder). Themenschwerpunkte: Gesellschaft und Kultur jenseits von Berlin in östlicher Richtung. In der taz erkundet sie monatlich die liebenswürdigen Widersprüche der deutsch-polnischen Oder-Grenzregion (Kolumne grenzwertig) und berichtet aus der Ukraine.

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