Explosives Destillat

von THOMAS GERLACH

Josef Kneifel beschert Albträume. Unter Hemd und Hose nur Gelenke und Knochen. Ein narbiges Püppchen, kantiger Schädel darauf. Ein Konzentrat von Mensch, sieben Jahre von der Stasi geköchelt, als die DDR noch stark war und Honecker gesund. Gepresst aus der DDR-Frucht Kneifel, die keine sein wollte, kein Nickschaf sein, kein Leisetreter. Josef Kneifel hockt in seiner Sitzecke, rührt im Tee, spricht mit feinem sächsischen Akzent. „Ich hatte doch mit dem Leben schon abgeschlossen. Jetzt bin ich dankbar über jeden neuen Tag!“ Ein Morgengebet wie aus der Reha-Klinik. Kneifel ist noch keine 60 und klingt wie ein Veteran. Der Kampf ist vorüber, der Kämpfer lebt, die Beine sind noch dran, an den Enden stecken Filzschuhe.

Sieben Jahre Bautzen

Ein DDR-Zwerg wollte er nicht sein, sondern aufrecht gehen, Nacken steif, Kopf fest nach oben. Geboren in Schlesien, Vater gefallen, Mutter von Russen erschossen, von fremden Eltern aufgezogen. Aufgelehnt, empört, protestiert: gegen die SED, gegen die Russen, gegen den Einmarsch in Prag 68, gegen ein Land ohne Fenster, mit niedrigen Decken, an denen er sich stieß. Da half nur die Bombe. Und die Bombe half ihm: „Von dieser Stunde an konnte ich wieder frei und offen in die Welt schauen“, schreibt Kneifel später. 162 Tage hält das Glück. Am Betriebstor endete es. Klick! und ab und weg ins Loch. Für immer.

Das Immer währte sieben Jahre. Sieben Jahre Bautzen, Gesondertes Kommando, sieben Jahre. Josef Kneifel saß die Hälfte davon im Arrestkeller, hat sich aufgelehnt mit Hungerstreiks, verschimmelte fast. Das bewusstlose Bündel wurde im Haftkrankenhaus aufgepäppelt: Schlauch durch die Nase und Suppe hinein. Mit Formeln und Konstanten hat er sein Gehirn durchspült, Gedankenblitze aus dem Schulunterricht immer und immer wieder zucken lassen, ist im Kreis gegangen, hat zuletzt im Kreis gedacht. Hat sich wieder aufgelehnt, hat Gleichungen geflüstert, mit dem eigenen Blut an die Wände geschmiert, Parolen gebrüllt, in den Putz gekratzt. Von der Stasi zusammengetreten, an Gestelle gekettet, aufgehängt wie Schinken, behandelt wie Scheiße. Resultat: Nase gespalten, Rippe gebrochen, Schulterblätter kaputt, Kiefer verrenkt. Manches ist verheilt, nur die Nieren haben versagt. Ein Destillat aus Bautzen, sieben Jahre gelagert, als Abfall deklariert, gen Westen geschmissen: Rein, hochprozentig, explosiv. Und in Nürnberg gestrandet: Kneifel, Josef Hugo, Invalidenrentner, Witwer, Jahrgang 42, ein Ritter im Zeichen des Rechts mit einer Seele aus Edelstahl: scharfkantig, blitzend – und doch gebrochen.

Behutsam stellt Josef Kneifel das Porzellan ab, beugt sich über den Tisch, malt Krakel auf Papier. „Das ist eine Wolfsangel“, und blickt kurz auf: „Verboten!“ Ein bitteres Lachen, ein neuer Krakel: „Triskele. – Verboten!“ Lachen, Krakel: „Odelrune. – Verboten!“ Josef Kneifel hat sich aufgerichtet. Jetzt geht’s ums Prinzip. Wie ein Anwalt, eingerahmt von Wartburgbibel und Goetheband, beginnt er zu klagen: „Das sind alles alte deutsche und europäische Zeichen! Alles verboten! Amerikanisches Zeug können sie sich auf die Jacke nähen, bitte schön! Diese Zeichen nicht!“ Fragender Blick, klagendes Lachen, Bitterkeit. „Die Russen haben uns damals wenigstens unsere Sprache und Kultur gelassen.“ Die Kneifelsche Brille entdeckt lauter Lanzen. Klingen, die seine Gerechtigkeit treffen. Klingen, die er schon kennt. Und die Wunden kennt er auch.

Josef Kneifel ist aufgesprungen, mit einem Heftchen aus dem Regal steht er am Fenster. Sein Finger wandert über Noten und Wörter, sein Mund rezitiert: „Und heute, da hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt!“ Kneifel wird eindringlich, hält das SS-Liederbuch fest. „Da steht nicht ‚geeee-hört‘!“ Sanft dehnt Kneifel den Vokal weiter und weiter, bricht ab, stößt ein anderes Wort aus: „Da steht ‚hört‘! Ist doch ein Unterschied! Das ist doch nicht imperial!?“ Fragender Blick, klagendes Lachen, Bitterkeit. Lauter Klingen ringsum.

Das Heft ist zurück im Regal, Kneifel sitzt. „Schreiben Sie ... Schreiben Sie, ich arbeite für eine karitative Häftlingsorganisation.“ Josef Kneifel ist zufrieden. „Das ist eigentlich nichts Politisches. Ich gebe nur die Hilfe weiter, die ich selbst in meiner Haftzeit erfahren habe.“ Angesichts so vieler Klingen muss man die Wunden anderer verbinden. Josef Kneifel meint, die HNG, die „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ ist so was wie amnesty international auf Deutsch.

Die HNG, alljährlich im Verfassungsschutzbericht aufgeführt, ist die mitgliederstärkste neonazistische Vereinigung. Der 20 Jahre alte Verein mit seinen rund 500 Mitgliedern betreut heute etwa 150 „nationale Bürger“, die auf Grund „politisch motivierter Delikte“ hinter Gittern sitzen. Unter ihnen der frühere NPD-Bundesvorsitzende Günter Deckert, hinter Gittern wegen Holocaust-Leugnung und Volksverhetzung.

„10.400 politische Gefangene gibt es in Deutschland. Mehr als in der DDR“. raunt es von Josef Kneifel her über den Tisch. Auflehnen, empören, protestieren. Nur kein Nickschaf sein, kein Leisetreter. Die Mechanik funktioniert noch und sie produziert Protest.

Josef Kneifel hat den linken Arm hochgekrempelt, fingerdick schlingen sich Adern unter der Haut, verzweigen, finden wieder zusammen. „Wissen Sie, was ein Shunt ist?“ Ein Shunt? „Hier, fühlen Sie!“ In den Leitungen fließt Kneifels Blut. Es rauscht unter der Haut, es pulst nicht. „Drücken Sie nur. Keine Angst!“ Josef Kneifel lacht, keine Fragen, keine Bitterkeit. Nur Lachen. „Das kommt aus der Elektrotechnik“, sagt er. „Ist eine Überbrückung. Hier wird ein Teil des Blutes direkt von der Arterie in die Vene geleitet.“ Montags, mittwochs, freitags schließt Josef Kneifel daran Kanülen an, lässt sein Blut waschen, dienstags, donnerstags und am Wochenende hat er Zeit für die nationalen Gefangenen, für Prozesse, für Durchhaltebriefe.

Ein privater dritter Weg hat Josef Kneifel in ein anderes Deutschland geführt, wo er wohnt und wo er weiterkämpft, immer weiter gegen ein anderes System mit den gleichen Lanzen, mit neuen Kameraden und alten Ideen. In Karl-Marx-Stadt ein Elektriker, in Bautzen ein Halbtoter, in Nürnberg ein Irrlicht mit selbst gemachtem Weltbild, wie man eine Marmelade zusammenkocht in der Küche. Oder eine Bombe baut in der Garage. Ein Weltbild ohne Amerika, dafür mit Deutschland, wie es einmal war, und mit Preußen, das völkerrechtswidrig vernichtet wurde. Eine Welt ohne Erschlaffung und Auflösung. Eine Welt ohne Nickschafe, Leisetreter und Untersuchungsrichter, ein Abendland, das stark ist und schön, eine Feier mit Fackeln und Fahnen, mit Erlösung für die „nationalen Gefangenen“, wie Josef Kneifel erlöst wurde.

Kneifel – ein Kampf-Paranoiker?

Vor der Bibel und dem Goethe krallt sich Josef Kneifel mit beiden Händen an die Brust, als wolle er ein Tabernakel aufreißen: „Ich wollte immer zum Guten und Rechten wirken. Und ganz tief in mir macht es mich froh, was ich erreicht habe!“ Josef Kneifel steht auf, geht zur Treppe. Hinauf führt sie in sein Büro im Dachgeschoss, wo die Stasi-Ordner stehen, zwölf oder dreizehn, dann die von seiner verstorbenen Frau, dann die „BRD-Urteile“, ein Ordner. Noch.

Vom Büro abwärts hat Josef Kneifel Ikonen gehängt: Goethe und Schiller erhaben, misstrauisch Preußens Friedrich Zwo, ein doppelter Bismarck. Mit Orden der eine, mit Kaiser der andere. Auf der Galerie ist noch Platz für Idole. Zwischen dem Reichskanzler und zwei Fotos vom angesprengten Sowjetpanzer über der Wohnungstür klaffen zwei Meter. Oder 100 Jahre Deutschland. Stahlnägel stecken schon in der Wand. Hier wird der drahtige Mann demnächst Bilder hängen, die Lücke schließen, wie man eine Wunde verschließt. Sagt er.

Die Stasi hat das Ehrenmal fotografiert: Ungerührt steht der Panzer im Scheinwerferlicht. Die Räder sind durch die Luft geschleudert, doch der Panzer hat sich kaum bewegt. Er war auf seinem Betonsockel verankert. Damit hatte Josef Kneifel nicht gerechnet, als er die Gasflasche unter den Koloss schob.

Kneifel steht unter den Panzerbildern wie unter Jagdtrophäen. „Der Stasi-Psychologe hat mich als Kampf-Paranoiker bezeichnet.“ Klingt wie ein Dienstgrad, Schulterstücke aus einer anderen Zeit. Und wäre heute der Panzer? Joseph Kneifel überlegt nicht lange: „Heute müsste ich an der Wallstreet einen Sprengsatz zünden.“ Pause. „Das ist ein Spaß!“ Und lacht. Und das Männlein mit den beweglichen Augen und dem glatten Schädel und den dicken Adern streut Gewissheit hinterher: „Aber ich würd’s machen!“ Ein Sandmann für Albträume.