Experte zur Rassismusdebatte in Brasilien: „Ein System der Angst“
Der Kampf gegen Rassismus in Brasilien muss sich auch gegen den Neoliberalismus richten, sagt Philosoph Silvio Almeida. Bolsonaro schüre viel Hass.
taz: Herr Almeida, Präsident Jair Bolsonaro hat Brasilien mit seinem Verharmlosungskurs ins Coronachaos gestürzt. Zudem ist er in zahlreiche Skandale verstrickt, und der Wirtschaft geht es schlecht. In den letzten Umfragen verzeichnet Bolsonaro dennoch die höchsten Umfragewerte seit Amtsantritt. Wie ist das möglich?
Silvio Almeida: Bolsonaro hat Kontrolle über den Staatsapparat, das ist ein großer Vorteil. Die Armee steht hinter ihm, ebenso ein Teil des Parlaments, das er durch politische Manöver auf seine Seite bringen konnte. Ein großer Teil der Unternehmerschaft hofft auf die angekündigten ultraliberalen „Reformen“ und hält ihm ebenfalls die Treue. Auch viele Medien spielen dieses Spiel mit und beginnen die Regierung aufgrund der neoliberalen Politik zu bestätigen. Und das, obwohl der Präsident den Journalismus verachtet, Oppositionellen ganz offen mit Gewalt droht und zunehmend autoritär auftritt. Bolsonaro hat es außerdem geschafft, die Coronanothilfen für seine Zwecke zu instrumentalisieren.
Sie sprechen von den 600 Reais (rund 90 Euro), die seit Beginn der Pandemie monatlich an arme Brasilianer*innen ausgezahlt werden.
Genau. Das ist viel Geld in Brasilien. Seine Regierung war eigentlich dagegen, erst auf Druck der linken Opposition wurde diese Summe ausgezahlt. Bolsonaro inszeniert sich nun als Urheber dieser Zahlungen. Das wirkt sich auf die Umfragen aus: Trotz totaler politischer Inkompetenz ist Bolsonaro so beliebt wie nie zuvor.
Ende Juni machte ein Video aus Rio de Janeiro die Runde. Ein Mann riss am Copacabanastrand Kreuze aus dem Sand, die eine NGO in Erinnerung an die Covid-19-Toten aufgestellt hatte. Was sagt das über den Zustand des Landes aus?
Brasilien ist ein Land, in dem das Leben einen sehr geringen Stellenwert hat. Seit je existiert eine Naturalisierung des Todes – und das wird nun durch die Bolsonaro-Regierung extrem angeheizt. Durch ihren aggressiven Diskurs, den extremen Militarismus. Die aktuelle Regierung ist aber auch Symptom einer Gesellschaft, die historisch auf Gewalt beruht. Brasilien hat zwei offene Wunden: das Erbe der Sklaverei und die nicht aufgearbeitete Militärdiktatur [Brasilien wurde von 1964 bis 1985 von rechten Generälen regiert; Anm. d. Red]. Bis 1888 wurden schwarze Menschen in Brasilien versklavt gehalten, so lange wie in keinem anderen Land der Welt. Und die wichtigsten Figuren der aktuellen Regierung haben während der Diktatur ihre Karrieren begonnen. Brasilien schafft es nicht, diese beiden Wunden zu behandeln.
Der Rassismus in Brasilien scheint sich von dem in anderen Ländern zu unterscheiden. Während es in Europa oder den USA zahlreiche Neonazigruppen gibt, würde sich in Brasilien kaum jemand offen als Rassist bezeichnen. Es gibt den Staatsgründungsmythos einer „Rassendemokratie“.
Es ist es wichtig, zu betonen, dass es auch in Brasilien Neonazigruppen gibt. Laut Studien sind es mehr als 330 Gruppen im ganzen Land, und ihre Anzahl steigt. Aber es stimmt, dass der Rassismus hier anders funktioniert. In den USA und in Südafrika war die „Rassentrennung“ Grundlage für die Staatenbildung. Die nationale Einheit in den USA war nur möglich durch die Einführung der rassistischen Segregation. Auch in Südafrika kam es zu einer Vereinigung der Weißen auf Kosten der schwarzen Bevölkerungsmehrheit. In Brasilien ist das Gegenteil passiert: Als sich der brasilianische Staat konstituierte, existierte die Sklaverei noch, ebenso der Diskurs von der Unterlegenheit der Schwarzen. Doch mit der nationalen Einigung in den 1930er Jahren wurde der Mythos der Rassendemokratie geschaffen – also die Vorstellung, dass Weiße, Schwarze und Indigene angeblich harmonisch zusammenleben. Aus europäischer Perspektive gilt Brasilien oft als ein buntes Paradies. Dieser Diskurs verschleiert jedoch die strukturelle Gewalt.
ist Jurist und Professor an der Macken-zie-Universität in São Paulo. Sein Buch „Racismo Estrutural“ (Struktureller Rassismus) ist eines der Standardwerke über Rassismus in Brasilien.
Wie sieht die aus?
In Brasilien sprechen wir nicht von weißer Vorherrschaft, sondern von weißer Überlegenheit. Je weißer, also je phänotypisch europäischer deine Haut ist, desto mehr soziale Anerkennung wirst du erfahren. Es gibt riesige Ungleichheiten zwischen Weißen und Schwarzen, die jedoch oft verdeckt werden. Das ist eine sehr ausgeklügelte Strategie, um Schwarze zu unterdrücken.
Bolsonaro erklärt immer wieder, kein Rassist zu sein, und tritt fast täglich mit seinem schwarzen Berater auf. Was halten Sie davon?
Bolsonaro ist ein Rassist, ohne Zweifel. Er schürt ganz offen Vorurteile gegen Schwarze. Bei einer Veranstaltung, ironischerweise in einem jüdischen Kulturzentrum, verglich Bolsonaro einmal schwarze Menschen mit Tieren. Was ist danach passiert? Bolsonaro wurde wegen Rassismus angeklagt, aber der Oberste Gerichtshof hat die Anzeige eingestellt. Rassismus braucht Raum, um sich reproduzieren zu können, und diesen Raum schafft die Regierung. Einer ihrer ersten Akte war der Versuch, die Quotenregelung an den Bundesuniversitäten zu kippen.
Durch die von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT eingeführten Quoten hatten Schwarze und Indigene erstmals im größeren Umfang Zugang zu Universitäten bekommen.
Genau, das war eine klare Ansage. Und als Chef der Fundação Palmares [staatliche Organisation zur Bekämpfung von Rassismus; Anm. d. Red.] nominierte Bolsonaro einen schwarzen Mann, der gegen Antirassismus wettert und Idole der Schwarzenbewegung beleidigt.
Oft geht die neoliberale Wirtschaftspolitik bei der Debatte über die Bolsonaro-Regierung ein wenig unter. Welche Rolle spielt sie in dieser Frage?
Brasilien ist kürzlich auf die Welthungerkarte der UNO zurückgekehrt. Eine Austeritätspolitik, die soziale Rechte und Schutzsysteme für Arbeiter zerstört, hat verheerende Auswirkungen in einem Land, in dem die meisten Schwarzen arm sind. Rassismus und Wirtschaft müssen zusammen gedacht werden.
In ihrem Buch „Racismo Estrutural“ schreiben Sie: „Um den Rassismus zu bekämpfen, reicht es nicht, dass Schwarze und Indigene Machtpositionen einnehmen.“ Was muss passieren?
Der Kampf gegen den Rassismus muss auch ein Kampf gegen den Neoliberalismus sein. Die Austeritätspolitik benötigt autoritäre Maßnahmen, denn ein offener demokratischer Prozess würde viel Widerstand hervorrufen. Deshalb ist es für das neoliberale Projekt so wichtig, die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung immer stärker einzuschränken. Wie schafft man das? Durch Gewalt, durch Rassismus. Indem man Angst schürt und Feinde kreiert. Das hat Bolsonaro perfektioniert.
Letzten Donnerstag erst töteten in Porto Alegre Wachmänner eines Supermarkts einen Schwarzen. Viele Tode in Brasilien gehen auf das Konto der Polizei. Anders als in den USA führen Gewalttaten der Polizei aber selten zu großen Protesten. Warum?
Das Land hat sich an den Tod von schwarzen Menschen gewöhnt. Das lässt sich mit einem Beispiel erklären: Wir haben TV-Shows, in denen Gewalttaten der Polizei glorifiziert werden. In einer dieser Sendungen gibt es eine Rubrik, die „Steuernummer gestrichen“ heißt. Diese Nummer wird gestrichen, wenn man stirbt. Der Moderator feiert, applaudiert und lacht, wenn Polizisten einen angeblichen Verbrecher töten. Das sind oft Hinrichtungen, selbstverständlich ohne Urteil. Ein Zivilisationsbruch zur besten Sendezeit. Die Menschen in Brasilien denken oft: „Die Polizei in den USA ist sehr gewalttätig.“ Sie ist gewalttätig, ja. Aber die Polizei in Brasilien ist noch viel schlimmer.
993 Menschen tötete die Polizei der USA im Jahr 2019. Allein die Polizei von Rio de Janeiro tötete in diesem Zeitraum 1.810 Menschen – und das, obwohl die USA 50-mal so viele Einwohner*innen wie Rio de Janeiro haben.
Richtig. Während der Black-Lives-Matter-Proteste in den USA machten Bilder von knienden Polizisten die Runde, die sich mit den Demonstranten solidarisierten oder sich entschuldigen wollten. Solche Bilder wären unvorstellbar in Brasilien. Die Polizei hier ist militarisiert. Ihr Ziel ist es, einen internen Feind auszulöschen – nämlich die eigene Bevölkerung. Das macht eine ähnliche Protestkultur wie in den USA oder Europa schwer. Aber es gibt Widerstand: in den Stadtteilen, von der Schwarzenbewegung, von Menschenrechtsgruppen. Der Widerstand muss sich aber an die Bedingungen eines Landes anpassen, das von unvorstellbarer Gewalt geprägt ist. Dass nicht noch mehr Menschen getötet wurden, hat auch damit zu tun, dass sich viele wehren. Etliche Errungenschaften für Demokratie und Staatsbürgerschaft gehen zudem auf die Proteste von schwarzen Brasilianern zurück. Das Land hat der Schwarzenbewegung viel zu verdanken.
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