Experte Parnreiter über Hunger in Mexiko: "Die Kleinbauern werden verdrängt"
In Mexiko ist Hunger wieder ein Thema. Das Land produziert zu wenig Mais und ist abhängig von USA - Folge der Freihandelszone Nafta, so Mexiko-Experte Parnreiter.
taz: Herr Parnreiter, die ersten Proteste gegen teure Lebensmittel gab es vor einem Jahr in Mexiko. Wie sieht die Situation heute aus?
Christof Parnreiter: Die Vereinten Nationen bezeichnen Mexiko nun wieder als ein Land, das vom Hunger gefährdet ist. Das ist kein Wunder. Denn die Krise der mexikanischen Landwirtschaft hat sich verschärft.
Woran liegt das?
Die Krise ist strukturell. Zu Beginn der 1970er-Jahre ist das Land importunabhängig gewesen, was das Grundnahrungsmittel Mais betrifft. Heute produziert Mexiko zu wenig Mais, um sich selbst zu versorgen. Die Importabhängigkeit hat sich verstärkt, und wenn die Maispreise international weiter steigen, wird das die Krise verschärfen.
Welche Rolle spielt dabei das Nordamerikanische Freihandelsabkommen Nafta?
Seit dem Beitritt 1994 hat sich die Situation in der Landwirtschaft - wie übrigens auch in der mexikanischen Industrie - verstärkt geändert. Die Maisanbaufläche beispielsweise ist um mehr als 10 Prozent zurückgegangen, und immer mehr kleine Familienbetriebe liefern nicht mehr für den lokalen Markt, sondern produzieren nur noch für den Eigenverbrauch. Gleichzeitig aber ist die Maisproduktion in Mexiko gestiegen. Das heißt, dass es auch erfolgreiche Betriebe gibt.
Seit Anfang des Jahres können die USA im Rahmen von Nafta Mais zollfrei nach Mexiko exportieren. Was heißt das für Mexikos Bauern?
Dass es eine noch stärkere Polarisierung geben wird: Kleinbauern und mittlere Betriebe werden mehr und mehr vom Markt verdrängt werden. Seit 1994 haben sich die mexikanischen Maisimporte fast vervierfacht. Dabei spielt aber auch die mexikanische Politik eine Rolle. Schon seit Mitte der 1980er-Jahre, als Mexiko Strukturanpassungsprogramme durchzog, hat es für Kleinbauern kaum noch Unterstützung wie leistbare Kredite oder Hilfen bei der Vermarktung gegeben.
Sähe die Lage für Kleinbauern unter einem linken Präsidenten wie Andrés López Obrador besser aus als unter dem rechtskonservativen Felipe Calderón?
Unter López Obrador hätte es sicherlich mehr Sozial- und auch Infrastrukturprogramme gegeben, wie er es zum Beispiel als Bürgermeister von Mexiko City gezeigt hat. Aber ich glaube nicht, dass er als Präsident eine strukturell andere Politik hätte durchsetzen können. Dazu ist der Rahmen, den die Welthandelsorganisation und die Nafta vorgeben, zu eng.
Wie realistisch wären Nachverhandlungen der Nafta-Verträge, wie sie vor allem mexikanische Kleinbauern fordern?
Das würde voraussetzen, dass alle Seiten, also Mexiko, die USA und Kanada mittun. Theoretisch stünde es Mexiko frei, anders und stärker aufzutreten.
Andererseits gibt es ja auch Profiteure vom Nafta-Beitritt.
Es gibt natürlich Gewinner der Marktöffnung wie den Unternehmer Carlos Slim, der nun reichster Mann der Welt ist, oder Cemex, der mittlerweile weltweit drittgrößte Zementhersteller. Auch die Frischobstproduktion im Norden des Landes profitiert oder die Grupo Modelo, die Corona-Bier braut. Die Frage ist aber, wem sich die politische Führung verpflichtet fühlt - den 300 Unternehmen, die mit 95 Prozent der Ausfuhren aus Mexiko erfolgreich am Weltmarkt agieren können, aber nur 15 Prozent der Beschäftigten stellen - oder den zahllosen anderen Betrieben.
Auch bei uns gab es einen gesellschaftlichen Wandel, wenige arbeiten heute in der Landwirtschaft, viele im Dienstleistungssektor. Vollzieht sich der Wandel in Mexiko einfach einige Jahrzehnte später?
Nein. Das ist so nicht vergleichbar. Einerseits ist Dienstleistung bei uns vielfach gehobene Dienstleistung, während in Mexiko etwa 45 Prozent der Arbeitenden im informellen Sektor ohne Verträge und Absicherung tätig sind. Andererseits ist die Entbäuerlichung in Europa parallel zur Industrialisierung verlaufen. Die Industrie Mexikos aber steckt - ähnlich wie die Landwirtschaft - in einer tiefen Krise: Die binnenmarktorientierte Industrie kann mit den verstärkten Importen nur schwer konkurrieren und die Maquiladoras, die Montagebetriebe in den zollfreien Produktionszonen, verlieren. China ist billiger.
Was bleibt dann noch?
Für sehr viele die Migration. Die Wanderung in die USA reißt nicht ab, sie scheint unbeeindruckt von Zäunen und Grenzen. Seit 1990 hat sich die Zahl der mexikanischen Migranten in den USA verdreifacht, und mehr als die Hälfte von ihnen - 6,5 Millionen - haben keine Papiere. Dass die Zuwanderung nicht legal ist, drückt auf den Preis der Arbeitskraft und lässt US-Unternehmen flexibler wirtschaften.
Was bedeutet das für die Dorfstrukturen?
Man sieht sofort, wo es Migrationsfamilien gibt: Dort, wo die Häuser größer und stabiler sind, dort wo sich der Nachbar ein schöneres oder überhaupt ein Auto leisten kann. Ob man aber mit einem Fuß in der Heimat verwurzelt bleibt, ist die Frage. Und ob man zwei Füße hat, hängt auch davon ab, ob man sich frei bewegen kann, ob man also illegal migriert oder nicht.
INTERVIEW: CHRISTINE ZEINER
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