Experimente im Fernsehen: Epilepsie für ZDF-Zuschauer
Dröge Internetthemen in schicker Optik und idiotensicher erklärt: Mario Sixtus, Deutschlands bekanntester Videoblogger und sein "Elektrischer Reporter" sind wieder da.
BERLIN taz | Die Schnitte sind schnell und springen. Die Animationen sind hyperaktiv. Die Kamera wackelt. Für klassische ZDF-Zuschauer schrappt der "Elektrische Reporter" nah am epileptischen Schock vorbei - ist er doch sonst eher ruhig gebaute Beiträge und langsame Kamerafahrten gewöhnt. Doch mit dem neuaufgelegten Format hat sich die öffentlich-rechtliche TV-Erbtante unter den deutschen Fernsehsendern mal was getraut.
Verantwortlich dafür ist Mario Sixtus, Deutschlands bekanntester Videoblogger. Vor fünf Jahren erfand der 45-jährige Düsseldorfer den "Elektrischen Reporter", ein Vodcast, in dem er in Anzug und mit bierernstem Gesichtsausdruck internetkulturelle Phänomene erklärte, die Protagonisten der Szene vor seine Kamera zerrte und optisch dröge Themen mit altmodischen Archivbildern aus den fünfziger und sechziger Jahren aufmotzte.
Ein Rezept, das dem ZDF so gut gefiel, dass es den "Elektrischen Reporter" ab 2008 fast zwei Jahre lang in seinem Infokanal ausstrahlte - um dann noch etwas Kühneres zu wagen: Vor neun Monaten erteilten sie Sixtus Produktionsfirma "Blinkenlichten" einen Freifahrtschein. Sie sollte drei Monate wild kreativ innovative Formate entwickeln, Netzthemen ohne öde Bilder von Menschen vor Rechnern ins Fernsehen bringen.
Sechs verschiedene Dummys bliesen Sixtus und seine Mitstreiter ins "Elektrische-Reporter-Labor" - Clips, in denen der Netzphilosoph Peter Glaser drei Minuten lang über Google Street View sinnieren durfte, während in einer zweiten Bildschirmhälfte ein Tischfeuerwerk von Bildmaterial abgefeuert wurde, in denen Onlinespezialthemen wie Netzneutralität oder Cloud Computing gut erklärt wurden - und dabei auch noch gut aussahen.
Wirklich neu war aber, dass diese Dummys nicht nur ein paar Sendermitarbeiter in Schnitträumen zu sehen bekamen. "Unser eigentliches Experiment war, dass jeder seinen Senf zu diesen halbfertigen Formaten dazugeben durfte", sagt Sixtus. Heißt: Die Clips wurden dem Publikum im Wochentakt zum Fraß vorgeworfen - in der ZDF-Mediathek und auf Sixtus Blog. Feedback ausdrücklich erwünscht. Was User bemängelten, wurde in einem zweiten Versuch verbessert. Und ihr Votum floss auch maßgeblich darin ein, was Sixtus und das ZDF fortan, weiterhin unter der Dachmarke "Elektrischer Reporter", in Serie produzieren. Ein Prinzip ganz nach dem Geschmack des passionierten Netzmenschen und Journalismusautodidakten Sixtus.
Den Zuschlag bekamen schließlich die Formate "ePolitik" und "Uebermorgen.tv" - eine wundervoll irre Projektion, wie Neuerungen im Netz die Gesellschaft in den kommenden zehn Jahren verändern werden. Außerdem dröselt ein zugekauftes Miniformat names "140 Sekunden" die Geschichte eines Tweets auf - in der gestrigen ersten Folge etwa die des Bloggers, der entdeckte, dass "Axolotl Roadkill"-Autorin Helene Hegemann abgeschrieben hat. All das, moderiert von Sixtus, soll künftig wöchentlich mittwochs in 14-Minuten-Sendungen laufen.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen, ist sogar noch besser als der alte "Elektrische Reporter": Sixtus wortspielt sich geistreich durch die Moderationen, Sascha Lobo tut so, als wäre er ein Post-Privacy-Jünger aus der Zukunft, der Privatheit als "Feigheit" geißelt, und Open Data wird selbst netzfernen Zuschauern optisch so kreativ erklärt, wie es nur geht, wenn man, wie Sixtus, das Thema wirklich verstanden hat. Und eben keinen Bock auf öffentlich-rechtliche TV-Konventionen hat.
"Ich finde es schade, dass es solche Experimente nicht häufiger gibt", sagt Sixtus. "Man könnte das doch ausweiten - die Leute einfach mal selbst bestimmen lassen, welche Serie sie im Fernsehen sehen wollen."
Mario Sixtus und sein "Elektrischer Reporter" im mittwochs, 23.45 Uhr, ZDF Infokanal
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Gerhart Baum ist tot
Die FDP verliert ihr sozialliberales Gewissen
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören