: Exodus von N.
Linor Goralik hat die Stimmen russischer Emigranten nach Beginn des Ukrainekriegs eingefangen und ihr Buch in Berlin vorgestellt
Als ihre Heimat Russland die Ukraine überfällt, verlässt N. das Land. Zuerst geht N. nach Tbilissi, dann nach Jerewan, Istanbul und schließlich nach Tel Aviv. Diese Orte bieten sich an, denn hier benötigt N., anders als in EU-Ländern, kein Visum.
N. sagt: „Als der Krieg begann, war die unangenehmste Entdeckung, wie sehr die Menschen um einen herum das unterstützen.“ Aber auch: „Wieso sollte ich mich schämen, Russin zu sein. Das wäre so, als würde man sich dafür schämen, einen Arm oder ein Bein zu haben.“
N., das sind eigentlich 200 verschiedene Menschen, verschmolzen zu einer einzigen anonymisierten Stimme der neuen russischen Emigration. Die Russ:innen sagten diese Sätze in den ersten Monaten nach Beginn der Großinvasion im Februar 2022 bei Treffen mit der aus der Ukraine stammenden israelischen Schriftstellerin Linor Goralik. Die Autorin zeichnete sie auf, wählte Passagen aus, kontextualisierte sie und veröffentlichte sie auf Facebook.
Nun sind diese Aufzeichnungen unter dem Titel „Exodus-22“ beim New Yorker Tamizdat Project in bilingualer Buchform erschienen – im russischen Original und in einer englischen Variante, die ein Übersetzerteam rund um Ainsley Morse erarbeitet hat.
„Exodus-22“ wurde kürzlich in dem russischsprachigen Buchgeschäft Babel Book Store in Berlin vorgestellt. Verleger Yasha Klots war vor Ort, Goralik und Morse schalteten sich dazu. Die 1975 im damaligen sowjetischen Dnipropetrowsk geborene Goralik, die lange Zeit in Moskau gelebt hatte, ist in Russland als „ausländische Agentin“ gelistet und damit unerwünscht.
Sie habe unbedingt die Rede der Menschen just in diesem Moment einfangen wollen, unmittelbar nach Beginn des Albtraums, sagte Goralik bei der Buchvorstellung. Es sei eigentlich gar nicht ihr Buch, es gehöre den vielen Menschen, die darin zu Wort kommen. Sie sehe sich in diesem Fall als Schreiberin, nicht als Autorin.
Klots spann diesen Gedanken weiter. Eigentlich handele es sich nicht um ein Buch, sondern um mehrere. Schon vor Langem emigrierte Menschen würden ein anderes Buch lesen als neu emigrierte, amerikanische Studenten ein anderes als ukrainische Flüchtlinge.
Letzteren könnten die Probleme und Sorgen der russischen Emigranten vergleichsweise kleinlich vorkommen. Echt sind sie trotzdem.
Yelizaveta Landenberger
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen