Exil in Großbritannien und Israel: Wiedersehen in Windermere
Skandale prägen das Polit-Leben Großbritanniens in diesem Sommer. Hier sprach unsere Autorin mit Alisa, einer 92-jährigen Jüdin aus Wien.
G roßbritannien hat einen ungewöhnlichen Sommer erlebt. Zuerst musste der moralisierende Gesundheitsminister Matt Hancock zurücktreten. Er hatte während der dritten Coronawelle gepredigt, man dürfe nur drei Familienmitglieder umarmen, und wurde dann selbst im Clinch mit einer attraktiven Italienerin gefilmt. Sie war nicht Teil seiner Familie, dafür aber eine alte Flamme, die er mit Steuergeldern als „Beraterin“ eingestellt hatte.
Hancock verschwand erst aus den Schlagzeilen, als die korrupten Lobbyistengeschäfte von Ex-Premierminister David Cameron bekannt wurden, der bildungsschwache Erziehungsminister Gavin Williamson seine Abiturnoten unterschlug und der Außenminister Dominic Raab sich in Kreta sonnte, anstatt seine Landsleute aus Kabul zu retten (ganz zu schweigen von Afghanen, die dort mit der britischen Armee zusammengearbeitet hatten).
Was viele Briten in diesem Sommer zudem ebenfalls erboste, waren die überhöhten Preise für PCR-Tests. Gemeinsam mit widersprüchlichen Reisewarnungen erschwerten sie es einkommensschwachen Familien mit Kindern, einen sonnigen Urlaub à la Dominic Raab zu erleben. Stattdessen reisten viele Briten dieses Jahr an englische Urlaubsorte – Cornwall im Süden und den Lake District im Norden. Und ausgerechnet in den Lake District wollten wir auch.
Briten urlauben im Inland
Unser Plan war es, dort die 92-jährige Alisa für eine Arte-Dokumentation zu interviewen. Alisa ist eine Wiener Jüdin, die kurz vor Kriegsausbruch mit einem Kindertransport flüchten konnte. In dem kleinen Ort Windermere im Lake District fand sie 1939 Zuflucht. 82 Jahre später schimmert der See Windermere immer noch blau und die Berge changieren in dreißig verschiedenen Grüntönen. Aber die verwinkelten Straßen des kleinen Ortes waren jetzt auf Kilometer verstopft, alle Hotels und Restaurants ausgebucht.
Unsere Regisseurin ergatterte schließlich ein Zimmer, das bisher mit großer Wahrscheinlichkeit als Stundenhotel gedient hatte. Unser tapferer Kameramann Tim irrte stundenlang durch die Stadt, um etwas Essbares für alle aufzutreiben. Und trotzdem wurden die Dreharbeiten keine Katastrophe. Das lag natürlich an dem Gespräch mit Alisa, aber auch an den vielen Einheimischen, die uns halfen.
Am beeindruckendsten waren Trevor Avery und seine Kollegin Rose Smith. Die beiden hatten kaum Geld, als sie 2010 eine kleine Ausstellung in ihrer örtlichen Bibliothek organisierten. Sie wollten an die 300 jüdischen Kinder erinnern, die Auschwitz, Buchenwald und Majdanek überlebt hatten.
Im Sommer 1945 flog die Royal Air Force die „KZ-Kinder“ nach Windermere, damit sie sich in der idyllischen Landschaft ein wenig erholen konnten. Trevor und Rose spürten viele der Kinder auf, interviewten sie und luden sie ein, noch einmal nach Windermere zu kommen. Es ist den beiden zu verdanken, dass 2020 der Film „Die Kinder von Windermere“ entstehen konnte.
Unsere Interviewpartnerin Alisa musste kein KZ erleben. Sie verbrachte den Krieg in der Sicherheit des Lake Districts, weit weg von Bombardierungen. Die Einheimischen von Windermere luden sie nach Hause ein, der örtliche Arzt behandelte sie kostenlos, und später bekam sie eine Lehrstelle im Ort.
Freund aus dem KZ
Jedes Wochenende ging Alisa ins Kino, und dort traf sie 1945 auf die „KZ-Jungens“. Einer von ihnen wurde ihr erster Freund. Heute lebt Alisa in Israel, aber mit ihrer großen Familie hat sie Windermere seither mehrmals besucht. Ein Foto des Ortes hängt zu Hause weiterhin an der Wohnzimmerwand.
An der Großzügigkeit der Einheimischen hat sich auch im Jahr 2021 wenig geändert. Im Lake District trifft man auf keine Hancocks, Camerons oder Raabs. Windermere und Westminster sind zwar nur 430 Kilometer voneinander entfernt. Es könnten aber auch zwei völlig unterschiedliche Planeten sein.
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