■ Ex-Jugoslawien: Der Westen hat seit Beginn der 90er stets auf separate Staaten gesetzt. Diese Politik wird auch im Kosovo scheitern: Die Alternative zum Luftangriff
Die Frage, wie man aktuell die Menschenjagd im Kosovo anders als durch den Nato-Militärschlag beenden könnte, bringt viele zum Schweigen. Auch die meisten Kritiker wollen gegenüber den Vertreibungsopfern nicht als mitleidlose völkerrechtliche Bedenkenträger erscheinen. Mit dem Apodiktum „keine Alternative“ lenken die Befürworter des Nato- Luftangriffs jedoch davon ab, daß sie selbst in extremer Beweisnot sind, ob sie mit Bombenschlägen ihr Ziel erreichen, die humanitäre Katastrophe zu verhindern.
Viel wahrscheinlicher ist, daß sie das Gegenteil bewirken: daß der ethnische Flächenbrand immer weitere Kreise zieht. Vorgestern die hierzulande großzügig übersehenen ethnischen Flurbereinigungen Kroatiens; gestern die ethnischen Gebiets- und Stadtspaltungen, die Massaker und Pogrome in Bosnien-Herzegowina; heute Kosovo – und morgen das Zuschneiden weiterer Staatssplitter entlang der Haßgrenzen in Makedonien und Montenegro?
Tatsächlich vollzieht sich vor unseren Augen das desaströse Scheitern der westlichen Jugoslawienpolitik der 90er Jahre. Deren elementarer Fehler war es, daß nie ernsthaft versucht wurde, die Aufsplitterung des von Tito geschaffenen Jugoslawischen Bundes zu verhindern. Die Bedenkenlosigkeit, mit der dessen Zerschlagung unterstützt wurde, ist nur erklärbar mit der außenpolitischen Wendeatmosphäre der frühen 90er. Damals wurde alles als politisches Wegwerfprodukt betrachtet, was irgendwie nach Kommunismus roch. Dabei wurde sogar die Sonderrolle Jugoslawiens vergessen, das, außerhalb des Sowjetblocks stehend, den Menschen relative Meinungsfreiheit und Freizügigkeit gewährte.
Gewiß: der Jugoslawische Bund zerfiel seit Titos Tod. Separatistische Ambitionen blühten in den 80ern wieder auf, alte völkische Ressentiments wurden aufgewärmt. Um so mehr hätte schon ein flüchtiger Blick in die gewaltreiche Geschichte dieser Region zeigen müssen, daß die halbwegs gelungene Integration Jugoslawiens für das Zusammenleben seiner Völkerschaften ein Segen war. Alles hätte versucht werden müssen, Jugoslawien zusammenzuhalten; etwa durch ein Assoziierungsangebot der EG – in Verbindung mit der Reform zu einer Konföderation, die den auseinanderstrebenden Bundesstaaten mehr Kompetenz gegeben hätte.
Dafür hat sich Gorbatschow seinerzeit intensiv eingesetzt und stand kurz vor dem Erfolg. Doch mitten in diese Bemühung platzte das Genschersche fait accompli der völkerrechtlichen Anerkennung Sloweniens, dem dann zwangsläufig eine Kettenreaktion folgte: Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Makedonien... Das Verhängnis nahm seinen Lauf, angeheizt von abenteuerlichen Ambitionen nach einem „Großserbien“, „Großkroatien“, „Großbosnien“, „Großmakedonien“ oder „Großalbanien“. So wurden die ethnischen Konflikte aufgewiegelt.
Niemals hätte man dem sich radikalisierenden ethnischen Geist in Jugoslawien international anerkannte eigene Staatsräume geben dürfen – doch davon wollten unsere historisch unkundigen Anerkennungspolitiker nichts wissen. Man dürfe, so hieß es, den jugoslawischen Teilstaaten nicht das Selbstbestimmungsrecht verweigern, das Deutschland gerade mit der Vereinigung erhalten hatte. Dabei wurde übersehen, daß es einen fundamentalen Gegensatz gibt zwischen einer nur ethnisch begründeten Selbstbestimmung und jenem Selbstbestimmungsprinzip, das Demokratie für die in einem Staatsgebiet lebenden Menschen vor ethnische Autonomie stellt. Letzteres ist die Selbstbestimmungsidee des Grundgesetzes. Es gehört wesensbildend zur Geschichte der Bundesrepublik, daß die Demokratie und sogar die Westbindung vor der staatlichen Einheit standen.
Kroatien wurde sogar auf der Basis einer Verfassung anerkannt, die den serbischen Minderheiten das volle Bürgerrecht verweigerte. Bosnien-Herzegowina bleibt ein absurdes Gebilde: ein Staat, der von seiner serbischen und kroatischen Mehrheit abgelehnt wird, die lieber zu ihren jeweiligen Kernstaaten gehören wollen. Auch das staatliche Autonomiestreben des Kosovo ist eine logische Konsequenz der vorhergehenden Beispiele und keineswegs nur eine Reaktion auf die Unterdrückung durch Serbien.
Wer diese Tragödie beenden will, der muß die Perspektive einer föderalistischen Reintegration des einstigen Jugoslawien (nun wohl mit der Ausnahme Sloweniens) wieder aufgreifen. Zu spät, lautet der professionelle Einwand, zu viel Blut sei geflossen, zu viel Haß habe sich aufgestaut. Doch dieses Argument verleugnet die erfolgreiche europäische Integrationsidee, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert wurde – gerade weil Europa zum Schlachthaus geworden war.
Stets war dabei klar, daß die europäischen Integration Jahrzehnte dauern würde. Um sie zu verwirklichen, mußte sie aber politische Leitlinie werden. Nur wer ein Ziel hat, kann seine Schritte darauf abstimmen und andere dafür gewinnen. Ebensowenig sticht der Einwand, daß es für einen jugoslawischen Bundesstaat in der EU oder in der Nato keine Zustimmungschance gebe: Die deutsche Außenpolitik initiierte 1991 das Drama und verwarf dabei schwerste Bedenken aus London, Paris und Rom. Sie kann auch die neue Perspektive initiieren helfen, wahrscheinlich zur Erleichterung aller. Denn die Aussichten für Jugoslawien werden sonst immer weitere Versuche ethnischer Staatssäuberungen und gewaltsamer territorialer Neugliederungen sein, die von teuren, langwierigen Nato- Aktionen gelegentlich gebremst werden können.
Wir können uns also aus Jugoslawien weder heraushalten noch uns einbilden, die fundamentalen Widersprüche von außen mit Militärgewalt überwinden zu können. Wir müssen die Jugoslawienpolitik grundlegend revidieren. Dem Einwand, die Reintegration sei eine Illusion, weil man die ethnischen Staatsführer dafür nicht mehr an einen Tisch bringe, ist zu entgegnen: Diesen bliebe kaum die Wahl, sich zu verweigern; sie haben ihre Staaten schon in den wirtschaftlichen Ruin getrieben und können sich nur noch vorläufig durch ethnisches Aufputschen gegen die jeweils anderen halten.
Die klare Erkenntnis ist: Der Versuch, das Gesamtproblem durch Zerlegen in staatliche Einzelteile zu lösen, ist gescheitert. Eine Friedens- und Integrationskonferenz, mit daran geknüpften EU-Hilfs- und Assozierungsangeboten: das ist die Alternative. Hermann Scheer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen