Europäische Kulturhauptstadt: Kai der Opfer
Das schöne Novi Sad ist Europäische Kulturhauptstadt 2022. Die serbischen Ausrichter kehren unschöne Seiten der Stadt aber lieber unter den Teppich.
Man sieht es ihr aber überhaupt nicht an. Im Gegenteil, für ihr Alter und mit ihrer Vorgeschichte an der Peripherie Europas hat sich die Europäische Kulturhauptstadt 2022 mit ihren gerade mal 350.000 Einwohnern aus 21 Nationen sehr gut gehalten.
1748 hatte Maria Theresia ihr den lateinischen Namen „Neoplanta“ gegeben. Die Einwohner sollten den Namen in ihre jeweiligen Sprachen übersetzen: Novi Sad (serbisch), Neusatz (deutsch) und Újvidék (ungarisch) heißt die neue Pflanze in der Pannonischen Tiefebene seitdem. Die entzückende Innenstadt mit ihren zweistöckigen Stadthäusern und Villen, den römisch-katholischen, griechisch- und serbisch-orthodoxen Kirchen und Kathedralen, Synagogen, Bauhaus-Bauten, Plätzen, Parks und Promenaden am kilometerlangen Donauufer – beim Spazieren durch die Stadt gewinnt man den Eindruck, hier sei in den letzten Jahrhunderten mit jedem Neuzuzug ein immer noch großartigeres Theater-, Kultur-, Verwaltungs-, Kirchen- oder Wohngebäude errichtet und in Schuss gehalten worden. Einiges davon ist in den letzten Jahren von der EU im Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms finanziert worden, die die Stadt auch wegen ihres Rufs, multikulturelle Vorzeigestadt zu sein, ausgewählt hat.
Orte
Wegen der Pandemie tragen in diesem Jahr gleich drei Städte den Titel Kulturhauptstadt Europas: neben Novi Sad (das eigentlich schon 2021 dran gewesen wäre, eröffnet am 13. Januar) sind das Esch-sur-Alzette in Luxemburg (Eröffnung am 26. Februar) und Kaunas in Litauen (Eröffnung am 22. Januar).
Literatur über Novi Sad
Zur Geschichte der Stadt: „Neusatz. Novi Sad. Kleine Stadtgeschichte“ von Ágnes Ózer mit einem literarischen Essay von Lászlo Végel (Pustet Verlag 2022).
Zur Geschichte des NS in Novi Sad: Aleksandar Tišmas Romane „Das Buch Blam“, „Treue und Verrat“, „Der Gebrauch des Menschen“ (alle im Hanser Verlag) sowie seine posthum erschienene Autobiografie „Erinnere dich ewig“ (Schöffling Verlag 2021). Außerdem die Erzählungen und Romane von Danilo Kiš im Sammelband „Familienzirkus“ (Hanser 2017).
Und so lassen die verantwortlichen Ausrichter in Novi Sad denn auch in dieser Hinsicht nichts liegen: „multikulturelle Synergien“ sehen sie in den Donaubrücken, die völlig überraschend als Symbol für die Verbindung von Nationen, Religionen und Geschlechtern vermarktet werden. Es wird das „beste Ethno-Festival in Europa“ („Tamburitza“) und das „größte und beste Musikfestival Europas“ („Exit“) geboten. Neben den immer hier stattfindenden Laternen-, Oktober-, Guglhupf-, Nikola-Tesla- und Dutzenden weiteren Kunst-, Tanz-, Film-, Musik-, Wein-, Mode- und Theaterfestivals. Natürlich wurde ein Fabrikruinenrest aufgetrieben, den man zum Kulturzentrum umbaute (in einer Gegend, die „Chinesisches Viertel“ genannt wird, keiner weiß, warum). Die „Štrand“ genannte Badeanstalt wird als „Copacabana Serbiens“, die Festung Petrovaradin als „Gibraltar der Donau“, die ganze Stadt als „serbisches Athen“ (Sitz des serbischen Nationaltheaters und der Matica Srpska, Serbiens ältester Kulturinstitution) vermarktet.
Geht man zwei, drei Straßen vom schnuckeligen Zentrum weg, bröckeln auch in Novi Sad Fassaden. Auf einer von ihnen steht ein Graffito: „Idemo u Berghain“ („Lass uns ins Berghain gehen“).
Die Einwohner der Stadt zieht es kulturell und ökonomisch längst wieder in den Norden, aus dem einst viele der Erbauer und Bewohner kamen. Doch anders als in vielen anderen durch den Braindrain leergefegten Landstrichen des Balkans gibt es in Novi Sad auch Zuzug, nun allerdings aus dem armen Süden des Landes.
Einer von ihnen verkauft Souvenirs auf der Festung: Kaffeetassen mit Tito und Putin. Er hat kaum Zähne im Mund, zerschlissene Klamotten, die Haut sonnengegerbt. „Der Westen hat uns nichts gebracht außer Armut“, faucht er auf die Nachfrage, ob sich Tito neben Putin wohl fühlen würde. „Putin ist wie Tito. Nur er hilft uns.“
Für rechtspopulistische Figuren wie Putin, Milošević oder den aktuellen Präsidenten Serbiens, Aleksandar Vučić, hat man in Novi Sad noch nie mehrheitlich votiert. Doch die neue Binnenmigration verändere die Stadt sehr stark, sagt der 80-jährige Schriftsteller László Végel, der der ungarischen Minderheit Novi Sads angehört. „Es wird immer schwieriger, Novi Sader in Novi Sad zu sein“, erzählt er. Der Nationalismus nehme zu.
Auch die deutsche Minderheit betrauert die alten Zeiten. Deutsch werde nicht mal mehr an den Schulen gelehrt, erzählt Marijana Vukobratović Stojisavljević, die sich im Deutschen Humanitären Verein engagiert. Die Deutschen seien in Jugoslawien pauschal als Nazis gesehen, vertrieben und diskriminiert worden. Von der Vorgeschichte, der deutschen Besatzung Serbiens, den brutalen Verbrechen, an denen Wehrmachtsangehörige genauso beteiligt waren wie Novi Sader Donauschwaben, erzählt sie nichts.
Die Spuren dieser Verbrechen findet man aber auch in ganz Novi Sad, wo man ansonsten auf Schritt und Tritt europäischer Geschichte aus den letzten 300 Jahren begegnet, so gut wie gar nicht. Und genauso wenig in den Programmen der Kulturhauptstadtmacher. Lediglich in dem auch auf Deutsch gedruckten Hochglanzband der Touristenbehörde Novi Sads findet ein aufmerksamer Leser einen Hinweis. Unter einem Foto von dem Fahrradweg an der Donau steht „Der Kai von Novi Sad besteht aus dem Sonnigen Kai, dem Belgrader und dem Kai der Opfer der Razzia, mit einer Gesamtlänge von fünf Kilometern. Diese Kilometer gehören zu den schönsten …“ Razzia? Welche Razzia?, würde ein unwissender Leser fragen. Erklärt wird es ihm hier nicht.
Der Straßenabschnitt „Kai der Opfer der Razzia“ erinnert an das Massaker, in dem vor 80 Jahren, zwischen 21. und 23. Januar 1942, die mit den Deutschen paktierende ungarische Armee 1.246 Einwohner (vor allem Juden und Serben) ermordete. Man hatte die Menschen bei minus 25 Grad ans Donauufer deportiert, sich ausziehen lassen, erschossen und ihre Leichen durch ein eigens dafür ausgestoßenes Loch in den zugefrorenen Fluss geworfen.
Am Kai erinnert ein Denkmal – eine Familienfigur aus Bronze – an die Ermordeten. Um es zu finden, braucht man Google Maps, da kein Straßenschild den Weg weist. Steht man davor, muss man weitergoogeln, denn was genau passiert war, erfährt man auch hier nicht.
Lázló Végel über Aleksandar Tišma
Dabei ist das Massaker aufs Akribischste dokumentiert. In der einheimischen Literatur von zwei der größten Schriftsteller des Balkans: Danilo Kiš und Aleksandar Tišma, beide Kinder Novi Sads. Vor allem Tišma, der 2003 mit 79 Jahren starb und weltweit als der Chronist Novi Sads verehrt wird, hat in fast all seinen Romanen die Zeit des Faschismus und seine Auswirkungen im postfaschistischen Novi Sad verarbeitet. Doch das Vermächtnis dieses Weltautors spielt im Hauptstadtkulturprogramm Novi Sads keine Rolle. „Es hat sich niemand bei uns gemeldet, der was zu ihm machen wollte“, behauptet die offizielle Seite. „Wir haben mehrmals Projekte eingereicht, um beispielsweise die Wohnung meines Vaters als Museum einzurichten“, erzählt Tišmas Sohn Andrej. Er hat mit Freunden 2016 eine Stiftung gegründet, die jährlich den Tišma-Literaturpreis vergibt. Ob sein Vater vergessen werden soll, weil die nationalistische Regierung die serbischen Verstrickungen in den Faschismus lieber unter den Teppich kehren will? „Die Leute haben die Romane meines Vaters gar nicht gelesen“, wehrt Tišma ab. „Sie interessieren sich nur für das, was die Massen anzieht: Musikfestivals.“
Der Autor László Végel, der mit dem Weltschriftsteller Tišma eng befreundet war, reagiert lauter: „Einer der bekanntesten und größten Söhne der Stadt ist nicht Ehrenbürger dieser Stadt. Putin schon. Um dem größten Sohn der Stadt eine Straße zu widmen, haben sie die kleinste genommen, die sie finden konnten. Natürlich ist das politisch!“
Im Merkur-Palast, dem eindrucksvollen modernistischen Wohngebäude, das Aleksandar Tišma in seinem Roman „Das Buch Blam“ beschreibt, als wäre es ein Schiff, das auf den Hauptplatz fährt, befindet sich die Wohnung, in der der Autor jahrzehntelang gelebt und geschrieben hat und die sein Sohn gern als Museum einrichten würde. Man muss die an ihn erinnernde Bronzeplakette an der Hauswand unter dem riesigen Werbeschild für die Spielothek erst suchen, aber immerhin gibt es sie.
Fragt man die ansonsten zu allem offenherzig Auskunft gebende Stadtführerin beim Überqueren des Platzes, ob sie etwas zu dem Haus und Tišma erzählen könnte, wehrt sie ab: „Da kommen wir jetzt auf gefährliches Terrain, das ich lieber nicht betreten will.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Auf die Frage, ob die Leute Angst davor hätten, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, weil die Regierung was dagegen hat, sagt der Autor Végel: „Es wäre gut, wenn die Leute wenigstens Angst vor der Vergangenheit hätten. Aber sie ist ihnen einfach scheißegal.“
Als die Stadtführerin am Ende vor der prächtigen Synagoge in der Judenstraße steht, sagt sie: „Die Bürger von Novi Sad sind bekannt dafür, dass sie sich nicht gern auseinandersetzen. Hier wurde schon immer lieber unter den Teppich gekehrt, damit obendrauf alles schön aussieht.“ Lässt sich das Verdrängen damit erklären, dass in Novi Sad schon immer so viele verschiedene Kulturen nebeneinanderher lebten, die sich nicht in die Angelegenheiten der anderen einmischten?
Nein, das könne man so nicht sagen, meint die Direktorin der Galerie Matica Srpska, Tijana Palkovljević Bugarski. Ihre Ausstellung über die Geschichte der serbischen Porträtmalerei zeigt die Entwicklung von den ungelenken frühen serbischen Ikonen (anonyme Laienmaler) zu den Großmeistern, die nach Russland und Frankreich gingen, um dort ihr Handwerk zu lernen (wozu Uroš Predić und sein „Schmollendes Mädchen“ zählt, das als „serbische Mona Lisa“ gilt). „Wir wollen damit zeigen, dass man nichts hinkriegt, wenn man nur in der eigenen Soße schwimmt. Und dass man nur weiterkommt, wenn man von anderen lernt. Das hat Novi Sad bisher ausgezeichnet.“
Novi Sad könnte also durchaus noch etwas von anderen lernen: In Berlin zum Beispiel wird neben dem Besuch des Berghain in vielen Reiseführern auch ein Abstecher ins Haus der Wannseekonferenz empfohlen.
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