Eurokolumne: Keinerlei Anlass für Optimismus
Im dritten Krisenjahr ist es wichtiger denn je, sich Gedanken über das Kommende zu machen. Zinsen für Staatsanleihen sind dabei das geringste Problem.
D ie Eurokrise geht nun ins dritte Jahr. Der Flügelschlag eines griechischen Schmetterlings hat einen Orkan entfacht, der das europäische Haus in seinen Grundfesten erschüttert. Die Politik hangelt sich derweil von einem Rettungsgipfel zum nächsten und verordnet dem Patienten Gift anstelle von Medizin.
Anstatt einen deprimierenden Rückblick über die verpassten Gelegenheiten und zerschlagene Porzellan des ausgehendes Jahres vorzunehmen, ist es heute wohl nötiger denn je, sich Gedanken über die kommenden Krisenjahre zu machen. Europas Wirtschaft befindet sich im freien Fall. Glaubt man aktuellen Konjunkturprognosen, dann wird die Eurozone im nächsten Jahr noch tiefer in die Rezession gleiten, wobei vor allem die Daten für die ökonomisch ohnehin schon gebeutelten Krisenstaaten rabenschwarz sind.
Die Zeiten, in denen die Zinsen für Staatsanleihen noch das primäre Problem darstellten, sind passé. Heute stehen ganze Volkswirtschaften mit dem Rücken an der Wand, und es gibt keinen Lichtstreif am Horizont, der auf eine Trendwende hindeuten könnte.
Die Dimension der Krise wird in Deutschland gern heruntergespielt. Hierzulande blickt man nur ungern über den eigenen Tellerrand. Um eine Vorstellung vom Ausmaß der Krise zu bekommen, könnte es hilfreich sein, sich folgende Zahlen vor Augen zu halten: Würde Deutschland die Rente derart kürzen wie Griechenland, hätten deutsche Rentner im Schnitt 261 Euro weniger pro Monat.
ist freier Journalist, Wirtschaftsexperte und politischer Blogger der ersten Stunde. Als Redakteur der „NachDenkSeiten“ und Herausgeber des Blogs „Spiegelfechter“ schreibt er regelmäßig zu sozial-, wirtschafts- und finanzpolitischen Themen. Im Westend-Verlag veröffentlichte er im Februar das Buch „Stresstest Deutschland: Wie gut sind wir wirklich?“.
An dieser Stelle wechseln sich unter anderem ab: Gesine Schwan, Rudolf Hickel und Eric Bonse.
Bittere Realität
Hätte Deutschland, wie Spanien, eine Arbeitslosenquote von 26,2 Prozent, entspräche dies in absoluten Zahlen mehr als 13 Millionen offiziell Arbeitslosen. Wie sich ein deutscher Lehrer fühlen würde, der weiß, dass mehr als die Hälfte seiner Schüler keinen Job bekommen wird, und was dies für die Eltern dieser Jugendlichen bedeutet, wird hierzulande ebenfalls gerne ausgeblendet.
Griechen, Spanier und Portugiesen können diese Zahlen nicht ausblenden, für sie sind sie bittere Realität. Und auch für die Italiener und die Iren hat die Krise längst eine Form angenommen, die wir allenfalls aus verblichenen Filmen und den Geschichten kennen, mit denen Oma und Opa uns immer weismachen wollten, wie gut es uns doch eigentlich ginge.
Die genannten Horrorzahlen sind wohlgemerkt keine direkte Folge der hohen Zinsen. Sie sind vielmehr eine Folge der angeordneten Kürzungspolitik und somit hausgemacht. Sie sind nicht die Krankheit, sondern die Symptome der falschen Behandlung. Wann ist die Grenze erreicht? Aber welcher Arbeitslosenquote kippt eine Gesellschaft? Wie schlecht muss es den Menschen erst gehen, bis sie der Demokratie den Rücken kehren und rechten Rattenfängern hinterherlaufen?
Wer die Krise herunterspielt, beleidigt die Geschichte durch einen Mangel an Phantasie. Die Konjunkturprognosen lassen leider keinen Raum für Optimismus. Ohne ein Gegensteuern wird der Sturm weiter zunehmen und auch an der deutschen Landesgrenze nicht halt machen. Meldungen, wie die Schließung des Opel-Werks in Bochum sind die ersten Anzeichen dafür, dass die Einschläge näher kommen.
„Belle époque“
Dass Europa diesem Sturm gewachsen ist, darf bezweifelt werden. Ehe wir uns versehen, könnten wir schon bald in einem Kontinent der sich befeindenden Nationalstaaten aufwachen – einem Europa des frühen 20. Jahrhunderts, mit dem Unterschied, dass wir uns nicht wie vor 1914 in einer „belle époque“ mit einer florierenden Wirtschaft befinden, sondern am Rande des Abgrunds.
Es sieht danach aus, dass unsere politischen und ökonomischen Eliten den europäischen Traum zu Grabe tragen. Sollte die Politik die Verantwortung der Stunde nicht erkennen, steht dem Kontinent eine düstere Periode bevor. Die Geschichte kennt keine Wiedergutmachung, die Weichen für unsere und die europäische Zukunft werden heute gestellt.
Wir stehen heute am Scheideweg. Borniertheit, Ignoranz und ideologische Scheuklappen haben uns dorthin gebracht. Hätten Politiker und Ökonomen die Menetekel wahrgenommen, wäre es nie so weit gekommen. Stattdessen haben wir uns lieber eine Scheinrealität aufgebaut, nun müssen wir den Preis zahlen – und dieser Preis wird hoch sein, wenn wir das Ruder nicht schon bald herumreißen.
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