Ethnische Fehden in Indien: Die Wut der Vergessenen

Vom Staat Assam in Indien im Stich gelassen, kämpfen in Bodoland verfeindete Ethnien um die knappen Ressourcen und ihre Kultur. Eine Chinesin vermittelt.

Die ethnischen Fehden gehen zulasten der Bevölkerung: aus ihrem Dorf vertriebene Bodo-Frauen. Bild: afp

BODOLAND | taz Das Geschrei im Abteil ist ohrenbetäubend, der junge Assamese spricht trotzdem im Flüsterton. „Die Bodos sind den Leuten verhasst. Es ist ein Fehler, sich auf ihre Seite zu stellen.“ Der Zug rollt noch, trotzdem drängen vom Bahnsteig bereits Menschen hinein. Aussteigen will kaum jemand in Bodoland, seitdem die Gewalt in der Region zurück ist.

Jenny Liang steht in einer roten Allwetterjacke am Bahnhof. Sie versucht gar nicht erst, sich zu verstecken, weit und breit ist sie die einzige Chinesin. Ihr Handschlag zur Begrüßung ist kurz und fest. „Die Leute glauben, dass ich zu den Bodos gehöre“, sagt die Sozialarbeiterin, während sie ihr Moped anlässt. „Bloß, weil ich ihnen helfe.“ Schwer bewaffnete Soldaten laufen die Hauptstraße herunter, sie haben Schießbefehl. Sie sind das Einzige, was die meisten Menschen hier mit dem fernen Delhi in Verbindung bringen.

Bodoland ist eine der ärmsten Regionen Indiens, im entlegenen Nordosten des Bundesstaats Assam kämpfen vergessene, marginalisierte Volksgruppen um Land, Wasser und ihr kulturelles Überleben. Der Stamm der Bodos konnte viele Sonderrechte erstreiten, das bestärkt ihn in seinem Herrschaftsanspruch – und schürt den Hass der anderen Volksgruppen ringsum. Vor einigen Monaten verübten militante Bodo ein Massaker an bengalischen Einwanderern, seither ist eine neue Welle der Gewalt über Bodoland hereingebrochen.

„Die Regierung in Delhi hat nie in eine Verwaltung investiert“, erklärt die 40-jährige Jenny Liang. Denn in Bodoland gibt es nichts zu holen, Bodenschätze sind rar. „Stattdessen schicken sie Soldaten.“ Früher war auch Liangs Mann in dieser Gegend stationiert, das Paar kam zurück, um zu helfen. Sie selbst sei in Kalkuttas chinesischer Gemeinde aufgewachsen, berichtet Liang, sie kenne das Gefühl, heimatlos zu sein.

Philosophie der Ameise

Außer einem schmalen Landkorridor verbindet Bodoland nichts mit Indien. Der Dschungel ächzt unter dem Staub der Straßen, Friedensappelle prangen an brüchigen Betonmauern. Im Schatten der Wellblechdächer hocken Männer mit südostasiatischen Gesichtszügen, argwöhnisch mustern sie die Chinesin auf dem Moped. Es ist gefährlich, anders auszusehen in einer Region, in der alles Fremde als Bedrohung wahrgenommen wird. Eine Häuseransammlung taucht auf. Hingewürfelt auf ein karges Feld liegt der Stützpunkt von The Ant, der Organisation, die Liang und ihr Mann vor zehn Jahren gegründet haben. Das Herz der Anlage ist eine Weberei, rund 50 Bodofrauen verdienen sich hier ein Zubrot. „Wir setzen auf die Stärken der Schwächsten, wie bei den Ameisen“, erklärt Liang.

Das Stammesgebiet der Bodos ist weitgehend autonom und liegt im indischen Staat Assam. Mit rund zwei Millionen Menschen bilden die Bodos die Mehrheit gegenüber Assamesen, Bengalen und Adevasis.

Staatliche Strukturen wurden nie entwickelt, weil die Regierung kein Interesse an der bitterarmen Region hat. Das Machtvakuum füllen militante Stammesgruppen, die sowohl die Zentralregierung als auch die anderen Ethnien bekämpfen.

Im Juli verübten Bodo-Milizen ein Massaker an bengalischen Einwanderern. Die muslimische Minderheit wird als Konkurrenz bei den knappen Ressourcen der Region gesehen. Die indische Regierung hatte zuvor versucht, die Bodos mit exklusiven Landnutzungsrechten zu beschwichtigen. Seither hat die Gewalt einen neuen Höhepunkt erreicht. Bis zu 500.000 Menschen sind auf der Flucht.

Seit 1972 ist die indische Armee im gesamten Nordosten mit Sonderrechten ausgestattet. Die anhaltende Gewalt hat seit den 70er Jahren allein in Assam rund 30.000 Menschenleben gefordert. Die Region ist für Journalisten kaum zugänglich.

Sie steuert ihr Wohnhaus an, das etwas abseits der Weberei steht. „Vor einigen Jahren wurde ein Mitarbeiter von Milizen entführt und erschossen. Sie hätten gern, dass wir verschwinden“, erklärt sie und betritt die Diele. Weit hinten in einer Vitrine, zwischen Keramikpuppen und einer Jing-Vase, schaut ein kleines Mädchen aus einem Bilderrahmen. Ihre Tochter haben die Liangs auf ein Internat in Kerala gegeben, viele Tagesreisen von Bodoland entfernt. „Sie ist sicherer dort. Das hier ist kein Umfeld für ein Kind“, sagt Liang mit großer Selbstverständlichkeit.

Wenn man sie fragt, was sie in dieser trostlosen Gegend hält, fernab der Tochter, blickt sie erstaunt auf: „Es macht doch Sinn, da zu sein, wo meine Arbeit gebraucht wird.“ Es ist keine falsche Bescheidenheit, Liang sieht sich nicht als Heldin. Erfüllung zu finden in der Selbstaufgabe, das ist kein Widerspruch in einer kollektivistischen Gesellschaft. Es ist die Philosophie der Ameise.

Im Schneidersitz postiert sich Liang auf dem Boden, sie erwartet zwei Männer aus dem Dorf Deosri, das sie beim Bau einer Räucherstäbchenfabrik unterstützt. Als die Gäste eintreffen, straffen sich ihre Gesichtszüge. Sie schimpft eine Weile in gebrochenem Bodo, verabschiedet die Männer dann aber mit einer respektvollen Verbeugung. Das ist Teil des Spiels, die patriarchalischen Stammesoberen weigern sich immer wieder, Anweisungen von einer Frau zu anzunehmen. Morddrohungen sind keine Seltenheit.

Am Nachmittag fährt Liang auf ihrem Moped in den Dschungel, tief hinein ins Bodoland. Sie will bei einem befreundeten Ehepaar nach dem Rechten schauen. Die Zikaden zirpen schon, als sie ihr Ziel erreicht. Jyoti Basumatary ist Dozent für Bodo-Literatur, auf einem kleinen Hof lebt er mit seiner Frau Preeti und zwei Söhnen. Hier sind die Bodos noch in der Mehrheit, in der Gegend ist das längst nicht mehr überall so.

Die Räucherstäbchenfabrik

Als Basumatary den Fernseher einschaltet, plärrt ein Bollywood-Spot in die Stille. „Wir verlieren unsere Kultur, da können auch Maschinengewehre nichts ausrichten“, beklagt er. Es sind nicht nur die Einwanderer, die den Bodos Angst machen, es sind die Vorboten der Globalisierung. Das Gefühl, von Indiens Wandel verschlungen zu werden. Der Stamm schottet sich deshalb von der Außenwelt ab. Während Basumatary neben Bodo auch das im Bundesstaat Assam wichtige Assamesisch und Hindi spricht, lernen seine Söhne in der Schule nur noch die Stammessprache. Das wird den Graben zum neuen Indien vergrößern. Und mit ihm die Gewaltbereitschaft der radikalen Gruppen.

Draußen im Hof riecht es nach Ziegenmist und frischer Farbe. Liang unterhält sich mit Peetri Basumatary, die hier einige Näherinnen beschäftigt. Sie verarbeiten die Stoffe der Ant-Weberei zu Taschen und Kleidern. „Frauen sind die besseren Ameisen“, sagt Liang ohne Ironie. „Sie geben sich mit kleinen Schritten zufrieden und jammern nicht so viel.“ Sie lacht. Der schwarze Pagenschnitt wippt im Takt ihrer Schritte, als sie die Werkstatt zeigt, sie wirkt fast ausgelassen. Vielleicht ist es doch mehr als Pflichtgefühl, das sie treibt. Sie hat eine Heimat gefunden, bei den Heimatlosen.

Am nächsten Morgen ist ein älterer Wissenschaftler aus Delhi zu Besuch. Liang nimmt ihn mit nach Deosri, das Räucherstäbchendorf. Die zerlöcherte Landstraße ist von Checkpoints gesäumt, Hunger und Malaria haben die Menschen in den Dörfern gezeichnet. Vor einiger Zeit kam es hier zu ethnischen Säuberungen, als Bodo-Milizen Bengalen und Adivasis ermordeten, um ihrem Stamm den wertvollen Bambuswald zu sichern.

Bedingungsloser Gemeinschaftswille

Die Fabrik soll die Feindschaft in Freundschaft verwandeln: „Die Bodos schlagen den Bambus, die Bengalen bedienen die Schneidemaschinen, und die Adivasis verarbeiten das geschnittene Holz zu Räucherstäbchen.“ Die Produktionsschritte verteilt Liang nach den Fähigkeiten der einzelnen Gruppen, so wächst die gegenseitige Abhängigkeit.

Bei übersüßtem Chai erklärt Liang den Stammesoberen die Produktionsabläufe. Der Wissenschaftler aus Delhi ist von ihr begeistert: „Schreib mir eine Fallstudie, wir können eine Publikation daraus machen“, wirft er ins Gespräch. Liang windet sich, es ist ihr unangenehm. „Es kann von großem Nutzen für euch sein“, insistiert der Mann, doch Liang springt schon auf. „Wissen Sie, ich habe gar keine Zeit zu schreiben.“ Als sie Motorengeräusche vernimmt, wird sie hektisch.

Es hat sich schnell herumgesprochen, dass sie Europäer mitgebracht hat. „Wir fahren jetzt besser zurück.“ Auf der „Ant“-Anlage empfängt sie das Klackern der Webstühle. Liang will noch die Toiletten putzen: „Jeder ist mal dran, egal ob Analphabet oder Akademiker.“ Da ist er wieder, dieser bedingungslose Gemeinschaftswille, der auf den ersten Blick so stutzig macht. Aber dahinter schimmert der Lebensentwurf eines mündigen Menschen. „Eine Ameise trägt das 30-Fache ihres Körpergewichts“, sagt Liang und schnappt sich den Putzeimer.

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