Esskultur im Norden: Die Küchenfrage
Vijay Sapre gibt das Gourmet-Magazin Effilee heraus - ausgerechnet in Hamburg, mitten in der kulinarischen Diaspora Norddeutschland.
H AMBURG taz Geboren bin ich in Hamburg, aber meine Kindheit und Jugend habe ich in Süddeutschland verbracht, erst in Biberach an der Riß und später in Erlangen. Kurz nach dem Abitur beschloss ich, nach Hamburg zurückzukehren. Ein Freund und Mentor gab mir damals die sehr ernst gemeinte Warnung mit auf den Weg, ich würde mich mit dem Essen schwer tun „dort oben“, man habe weder Kultur noch Metzger noch Brot.
Ob das stimmt, will ich zunächst dahingestellt sein lassen. Schwerwiegender empfand ich dies: Während es in Erlangen in den 90ern üblich war, mit dem frischen Führerschein und der neuen Flamme „nach Adlitz“ zu fahren, ins Dorf auf dem Berg, um sich dort an Schweinebraten, Knödeln und Bier zu delektieren, war in Hamburg damals schon das erste, was in der neuen Bekanntschaft abgeklärt wurde, die aktuelle Diätsituation: vegetarisch, Atkins, Montignac, nur Fisch, kein Fisch – die Hanseatin wusste beim Essen vor allem, was sie nicht wollte. Schweinebraten war auf dieser Negativliste ganz oben.
Und das Vorurteil mit dem Metzger und dem Bäcker lässt sich bestätigen: „Wir backen zweimal täglich frisch für Sie“, las ich gerade. Das bedeutet hier: Vorgebackene Tiefkühlbrötchen werden im „Frischezentrum“ regeneriert. Das muss man auch zweimal am Tag tun, weil sie schon nach wenigen Stunden kaum noch genießbar sind. Ein fränkisches Graubrot hingegen wird erst nach einer Woche wirklich gut. Offensichtlich ist der Stellenwert selbst so einfacher Dinge im Norden einfach nicht so groß.
51, arbeitete als Kellner, Taxifahrer, Musikproduzent und Werbetexter. 1996 gründete er das Automarkt-Portal mobile.de, dass er 2005 an Ebay verkaufte. Sapre ist Herausgeber und Chefredakteur der Hamburger Zeitschrift Effilee, die sich dem "Essen und Leben" widmet. 2008 machte er ein zweiwöchiges Praktikum im Sternerestaurant "Landhaus Scherrer" in Hamburg. Seit 2013 betreibt er das Hamburger Literaturhauscafé.
Meiner Erfahrung nach ist in Süddeutschland vor allem der kulinarische Unter- und Mittelbau viel stärker ausgeprägt, die dazugehörigen Traditionen sind viel lebendiger. Jedem fallen auf Anhieb ein paar norddeutsche Gerichte ein, sei es Aalsuppe oder Labskaus, aber wenn es um Restaurants geht, wo so etwas auf anständigem Niveau frisch gekocht und serviert wird, wird es schnell dünn. In München gibt es vielleicht nicht an jeder Ecke, aber mindestens in jedem Stadtviertel eine Wirtschaft, die Wollwürste oder Saure Lunge serviert.
Ich vermute, dass das viel mit den verschiedenen Konfessionen zu tun hat. Auch wenn die Leute nicht mehr in die Kirche gehen, spielen die kulturellen Prägungen immer noch eine große Rolle. Und wenn man sich auf der Karte ansieht, wo in Deutschland vorwiegend Katholiken leben, sind das auch die Gegenden, wo am meisten Sternerestaurants sind: Baden-Württemberg, Bayern, das Rheinland.
Für die These spricht auch, dass heute „Sünde“ quasi ein Synonym für Genuss geworden ist. Kein Bissen ohne schlechtes Gewissen. Die Protestanten haben ja nicht nur den Prunk, den Zölibat und die lateinische Messe abgeschafft, sondern auch die Beichte, die dem Sünder erlaubt, schon im Diesseits wieder mit sich und dem Glauben ins Reine zu kommen. Und wer nicht beichten kann, der muss die Sünde erst recht meiden.
Dazu kommt die Neigung des Norddeutschen zur Distanz. Man lässt sich ungern auf den Teller schauen. Mein erstes Gourmetrestaurant in Hamburg war Anfang der 90er das Landhaus Scherrer. Die hatten damals noch zwei Sterne, und ich musste mir das nötige Geld als Taxifahrer zusammensparen. Was mich am meisten beeindruckte, neben dem überaus einfühlsamen Service, der sich nie anmerken ließ, dass er genau wusste, dass ich mir den Besuch gar nicht leisten konnte, war, wie weit die Tische auseinanderstanden. So bleibt man unter sich, selbst wenn man ausgeht. Nicht wenige Hamburger, habe ich seither gelernt, bleiben sogar gleich ganz zu Hause und lassen sich dort bekochen.
Nein, wegen der Küche muss man nicht nach Hamburg ziehen. Trotzdem kann ich mir heute nicht mehr vorstellen, irgendwo anders zu leben. Bei den wirklich guten Restaurants stört es mich sowieso nicht, wenn ich reisen muss. Für Häuser wie das „Buddenbrooks“ und das „Belle Epoque“ in Travemünde, das „Aqua“ in Wolfsburg, das „Haerlin“ in Hamburg würde ich auch aus München anreisen. Und abgesehen davon kann man ja auch mal ganz hanseatisch zu Hause bleiben und selber kochen. Schweinebraten.
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