Essay zu Sunniten und Schiiten: Auf ewig Rivalen und Feinde
Der Publizist und Islamwissenschaftler Wilfried Buchta über „Die Strenggläubigen. Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt“.
Die postkoloniale Ordnung in Nordafrika und im Nahen Osten war lange durch mehr oder weniger stabile Entwicklungsdiktaturen geprägt. Mit der iranischen Revolution von 1979 erfuhr sie jedoch eine deutliche Veränderung. Zum ersten Mal gelang es religiösen Fundamentalisten, hier den Schiiten, die staatliche Macht zu erringen. Das stachelte die sunnitischen Extremisten in der arabischen Welt an. Die arabischen Diktaturen waren immer schon Bündnisse mit dem konservativ-islamischen Klerus eingegangen.
Doch bei vielen Regimen verschmolz nach 1979 die alte panarabische Großmachtideologie mit der panislamischen, die heute das vorherrschende Paradigma in der Region von Sunniten und Schiiten ist. Wilfried Buchta debattiert diesen Wandel in dem schlanken und gut lesbarem Essay „Die Strenggläubigen. Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt“. Auf 200 Seiten skizziert er, wie der (extreme) Nationalismus in den religiösen Fundamentalismus kippt. Er schildert dabei das jahrhundertealte Schisma zwischen Sunniten und Schiiten, die heutige Folie der Unversöhnlichkeit unter schiitischen und sunnitischen Extremisten.
Sein Buch speist sich aus eigenen Recherchen, Quellenkenntnis und – bei all seiner Skepsis in puncto Reformfähigkeit – einer großen Empathie für die islamische Welt. Buchta war von 2005 bis 2011 als Analyst für die Vereinten Nationen in Bagdad tätig, half Konflikte zu moderieren. Der 1961 geborene Islamwissenschaftler beherrscht (Hoch-)Arabisch sowie Persisch (Farsi). Von 1998 bis 2001 war er für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Marokko. Mehrmonatige Arbeits- und Forschungsaufenthalte führten Buchta nach Ägypten, Pakistan – und immer wieder in den Iran.
Der Iran hat seit 1979 eine Ausnahmestellung in der islamischen Welt, wie Buchta immer wieder betont. Immerhin gelang es den Teheraner Mullahs, 1979 nicht nur die Macht zu ergreifen, sondern ihr Regime durch ein ausgeklügeltes theokratisches System der Checks and Balances bis heute zu sichern. Die Vorgeschichte der iranischen Revolution, wie sie Buchta schildert, scheint den heutigen Szenarien in den arabischen Despotien ziemlich ähnlich. Auch die Diktatur des persischen Schahs ließ demokratischen Kräften keinen Spielraum zur legalen Entfaltung, die laizistische Linke war in den Untergrund abgedrängt.
Antiimperialistische Propaganda
Am Vorabend der iranischen Revolution war sie organisatorisch entsprechend schwach entwickelt. Im Gegensatz zu den Mullahs, die über die Moscheen im ganzen Land ein straffes Netzwerk hatten. Die iranischen Islamisten machten sich dabei – wie heute die arabischen – die alte antiimperialistische Propaganda der revolutionären Linken zu nutze. Sie verkehrten das klassenkämpferische Moment in ein kulturelles, antiwestliches. Den Lebensstil des Schahs und des Mittelstands erklärten sie zum Symbol für Unterdrückung schlechthin.
Und gaben damit alle Laizisten zum Abschuss frei, ob Schah-Anhänger, Demokraten oder Kommunisten, alle wurden kulturell als Ungläubige denunziert, um als politische Kraft physisch vernichtet zu werden. Im Gegensatz zu den desperaten und relativ ungebildet daherkommenden Bandenführern des sunnitischen IS beschreibt Buchta den iranischen Schiitenführer Ajatollah Chomeini als Teil des alten iranischen Klerus. Neben seiner hasserfüllten Philosophie verfügte Chomeini über ein ausgeklügeltes politisches Wissen.
Dem Strenggläubigen gelang es so, Tradition und Gegenwart in seiner Person zu vereinen, sich als religiöser wie politischer Führer aufzuschwingen. Buchta erinnert daran, dass die Massenerhebung gegen den Schah zunächst keine „islamische Revolution“ war. Diese wurde erst in den Jahren danach gegen Widerstände durchgesetzt. Wesentlich auch durch den im Iran-Irak-Krieg (1981–88) geschürten Patriotismus.
Al Qaida und IS
Doch der angestrebte Export der schiitischen Revolution unter dem Deckmantel des Panislamismus blieb weitgehend aus – auch wenn der Iran Terrorfilialen im Libanon (schiitische Hisbollah) gründete und in Palästina (sunnitische Hamas) unterstützt. In den sunnitisch-arabischen Ländern blieb die entscheidende islamistische Größe oft die ägyptische Muslimbruderschaft. Parallel dazu setzte von Saudi-Arabien aus in den 1990er Jahren, wie Buchta beschreibt, der Aufstieg des sunnitischen Extremismus ein, zunächst mit al-Qaida, heute mit IS und anderen Ablegern. Diese wetteifern mit dem schiitischen Extremismus um die Vorherrschaft. Sie liefern sich heute im Irak, in Jemen und Syrien schwerste, eliminatorische Auseinandersetzungen.
Wilfried Buchta: „Die Strenggläubigen. Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt“, Hanser Berlin 2016, 240 Seiten, 20 Euro
Neben 1979 ist für Buchta ein weiteres markantes Datum in der Region das Jahr 2003. Damals veranlasste US-Präsident Bush jun. den Regimewechsel im Irak. Der Autor identifiziert den Sturz Saddams als „zweifaches Geschenk“ für die Mullahs in Teheran. Durch den Sturz des sunnitischen Diktators Saddam sowie der Wahlen gelangten die Schiiten als größte Bevölkerungsgruppe im Irak an die Macht. Die USA hatten mit Saddam einen Massenmörder von der Macht verdrängt, doch das antiwestliche Ressentiment und die Organisierung entlang völkisch-konfessioneller Linien in der Region unterschätzt.
Buchta folgert aus der Entwicklung im Irak, dass ausländische Interventionen „im Nahen Osten niemals einen funktionierenden Staat und gesellschaftlichen Frieden hervorbringen können“. Das klingt logisch. Doch verkennt der Autor, dass es vielleicht auf den richtigen Zeitpunkt, eine klare menschenrechtliche Begründung und Zielsetzung – wie bei der Durchsetzung einer Flugverbotszone in Syrien – ankäme.
Denn zu jeder Zeit gab und gibt es demokratisch orientierte Verbündete, die sich weder in das schiitische noch in das sunnitische Schisma pressen lassen und die ohne Unterstützung zugrunde gehen. Buchtas Pessimus ist verständlich, doch neigt er dazu, die Entwicklung hermetischer zu schildern, als sie ist. Westfälischer Friede hin oder her, nichts deutete im Europa der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts auf die heutige Friedensordnung. Auch hier galt es vor Kurzem noch, zwei Weltkriege und den nationalsozialistischen Terror zu überstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Weihnachtsbeleuchtung im spanischen Vigo
Die Lichter, die für Ärger sorgen
Reaktionen auf Anschlag von Magdeburg
Rufe nach Besonnenheit