Essay über fehlende Humanität in Schulen : Reißt den Zaun ein!
Schule soll Türen öffnen zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst. Stattdessen trennt sie Menschen. Ein Gegenvorschlag.
taz FUTURZWEI | Schule sollte Türen öffnen: Türen zur großen, weiten Welt, aber auch Türen zu den Herzen anderer Menschen und zu einem tiefen Vertrauen in sich selbst.
Doch wir wissen auch, dass Schule viel zu oft das genaue Gegenteil darstellt: Ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche immer wieder spüren, scheinbar zu klein für diese Welt zu sein. In diesem Artikel möchte ich darüber sprechen, was es bedeutet, wenn die Institution Schule lernenden Subjekten die Welt verschließt.
Was es bedeutet, wenn die erste Institution, mit der junge Menschen in einer Demokratie in Berührung kommen, ihnen das Gefühl gibt, nicht gut genug zu sein, um an dieser Gesellschaft teilzuhaben. Und ich möchte verdeutlichen, welche gravierenden Auswirkungen dies auf das Demokratievertrauen und die Partizipationsbereitschaft hat.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°31: GEMEINSINN
Gemeinsinn gilt manchen als gut gemeint, salonlinks oder nazimissbraucht. Kann und wie kann Gemeinsinn zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen?
Mit Aleida Assmann, Armin Nassehi, Barbara Bleisch, Florian Schroeder, Jagoda Marinić, Wolf Lotter, Heike-Melba Fendel, Florence Gaub, Paulina Unfried, Tim Wiegelmann und Harald Welzer.
Die Schule als Zaun, nicht als Chance
Den folgenden Text mit dem Titel „Der Zaun“ habe ich in der Schule geschrieben, sogar mitten im Unterricht – mit Tränen in den Augen. Ich hatte zu der Zeit nur einen Hauptschulabschluss, was unter anderem darin seine Ursache hatte, dass ich aufgrund einer starken Körperbehinderung eine Förderschule besuchte. Infolge vielfältiger Diskriminierungserfahrungen gehörte ich nun also auch noch zu jenen Menschen, welche gelegentlich als „bildungsfern“ bezeichnet werden. Das wurde mir in diesem Moment schmerzlich bewusst.
Der Text symbolisiert für mich die Institution Schule und drückt metaphorisch aus, wie ich die Schule als institutionelles Gesamtkonstrukt wahrnehme.
„Die Welt ist groß, weit, bunt. Es gibt so viele geniale Menschen, so viel zu tun, zu entdecken und zu erleben. Doch vor dieser Welt steht ein Zaun, ein Zaun, der sich Schule nennt. Dieser Zaun trennt mich von der Welt, von anderen Menschen und sogar von mir selbst. Mit Abschlussprüfungen soll man diesen Zaun einreißen können, um hinter ihm wieder die tolle Landschaft zu sehen, um all das zu erblicken, was er einst versperrte.
Das Einreißen dieses Zaunes nennen wir Bildung. Doch in Wirklichkeit ist es nur ein Kräftemessen. Wer ist stark genug, den Zaun einzureißen? Doch wer den Zaun nicht einzureißen schafft, der ist niemals selbst schuld. Schuld sind alle, die jemals auf die Idee gekommen sind, diesen Zaun zu errichten.“
Soll heißen: Für mich bedeutet Bildung nichts anderes als die Möglichkeit, einen Zaun einzureißen, um endlich Zugang zur Welt zu haben. Das ist es, worüber wir beim sogenannten „Bildungsaufstieg“ sprechen. Die Grundaussage unseres Schulsystems lautet: „Die Welt ist dir verschlossen, und du musst sie dir erst durch Abschlussprüfungen eröffnen.“
Alle Politiker*innen, von der CSU bis zur Linkspartei, sprechen davon, dass wir mehr Bildungsgerechtigkeit brauchen. Doch niemand hinterfragt den Zaun, den wir errichten. Stattdessen wollen sie allen bessere Werkzeuge geben, um den Zaun einzureißen – und das nennen wir Chancengleichheit.
Aber warum dieser Zaun überhaupt da steht und wie es jemals dazu kommen konnte, dass zwischen der Welt und dem Individuum ein Gebäude namens Schule errichtet wurde, das diese trennt, hinterfragt niemand.
Die gängige Antwort der Politik auf Bildungsgerechtigkeit lautet, dass wir ganz intensive Förderung benötigen. Multiprofessionelle Teams sollen sicherstellen, dass alle frühestmöglich und intensiv gefördert werden. Es gibt sogar Trainingscamps für versetzungsgefährdete Kinder in den Ferien, angeboten vom Kultusministerium.
Ich bin Tim, 20 Jahre alt. Aufgrund meiner Körperbehinderung konnte ich nochmal aus einer ganz anderen Perspektive erleben, was es bedeutet, in einem System zu sein, in dem die meisten Schüler:innen die Erfahrung machen, dass sie als Person nicht zählen. Doch vor allen Dingen wurde mir klar, dass ‚behindert sein‘ oft nur ‚behindert‘ werden ist.
Lange Zeit verfügte ich nur über einen Hauptschulabschluss, was unter anderem daran lag, dass ich aufgrund einer starken Körperbehinderung eine Förderschule besuchte. Infolge vielfältiger Diskriminierungserfahrungen gehörte ich nun also auch noch zu jenen Menschen, welche gelegentlich als ‚bildungsfern‘ bezeichnet werden.
Als mir dies bewusst wurde, fasste ich den Entschluss, dass ich mich mit aller Kraft dafür einsetzen will, dass alle Kinder in unseren Schulen die Erfahrung machen, in dieser Welt willkommen zu sein. Dafür halte ich Vorträge und habe ein Buch verfasst. Daneben versuche ich, mein Abitur nachzuholen.
Subjekte unter Druck
Ich denke Bildung ganz anders; immer vom Subjekt aus. Ich versetze mich in die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen, die bildungsbenachteiligt sind, und sehe, dass diese Kinder den täglichen Kampf ihrer Eltern gegen die Armut miterleben müssen. Ich sehe traumatische Fluchtgeschichten, die diese Kinder für ihr Leben lang prägen.
Ich sehe also Kinder, die zutiefst verletzlich sind. Das ist auch Politiker:innen bewusst, die über Bildungsgerechtigkeit sprechen. Sie wissen, dass diese Kinder kaum Gelegenheit hatten, ein Vertrauen in sich selbst, ihre Mitmenschen und das Leben zu gewinnen. Und dennoch glauben sie, diese Kinder seien in der Lage, all die Angst auszuhalten, die mit dem einhergeht, was wir heute Bildung nennen. Sie sagen sogar: Diese Form von „Bildung“ sei für diese Kinder der einzige Weg aus diesem Leid.
Ich bin fest davon überzeugt: Die betroffenen Kinder spüren den Druck, der auf ihnen lastet, selbst dann, wenn sie ihn nicht explizieren können.
Sie spüren die Erwartungen ihrer Eltern, obgleich diese oft gar nicht aus einem autoritären Erziehungsverständnis herrühren, sondern aus der (verzweifelten) Hoffnung, diese Form der „Bildung“ werde dazu führen, dass ihre Kinder all dieses ganze Leid nicht nochmal erleben müssen und ihre Lebensrealität einmal durch fundamental andere Dinge konstituiert sein wird, als permanenter Angst, massiver Überforderung und zermürbender Erschöpfung.
Unser Schulsystem basiert darauf, in Abschlussprüfungen unter Angst möglichst viel akkumuliertes, zusammenhangloses Wissen wiederzugeben.
Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Elternhäusern werden immer viel mehr Belastungen zu tragen haben und deshalb weniger Schutz- und Resilienzfaktoren haben, um mit Angst und Druck umgehen zu können. Daraus folgt für mich: Ein System, das auf Angst und Druck basiert, kann nicht gerecht sein.
Bildungsgerechtigkeit als notwendige Utopie
Jeder Versuch, sogenannte Bildungsgerechtigkeit herzustellen, ohne das System der Angst zu hinterfragen, wird von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Was diese Kinder brauchen, um Lust zu gewinnen, diese Demokratie mitgestalten zu wollen, ist das Gefühl, in dieser Welt willkommen zu sein.
Doch genau dieses Gefühl erleben sie nicht. Ich habe daher den ersten Paragrafen eines neuen Schulgesetzes formuliert, der lautet:
„Jede bildungspolitische Entscheidung ist zuallererst auf ihre Humanität zu prüfen. Oberstes Ziel aller bildungspolitischen Bemühungen ist es, den Kindern und Jugendlichen das Gefühl zu geben, in dieser Welt willkommen zu sein.“
Wir alle teilen, denke ich, die Überzeugung, dass Schulen in einer demokratischen Gesellschaft humane Schulen sein müssen. Humane Schulen dürfen keine Menschen trennen, sondern müssen sie verbinden.
Deshalb lautet mein Kernsatz: „Wir müssen uns von allem trennen, was Menschen trennt!“ Also müssen wir uns von einer Schule trennen, die Menschen trennt. Das ist keine empirische Aussage, die erst belegt werden muss, sondern unsere humanitäre Verantwortung, damit Schule zu einem Zusammenleben in Harmonie befähigt.
Harald Welzer hat es einmal so schön gesagt: Die Grundfiktion der modernen Demokratie lautet eigentlich: „Wir wollen euch alle haben, alle gehören dazu, wir finden euch alle super.“ Doch was tut unsere Schule im Moment? Sie trennt Menschen nach angeblichen drei Intelligenzkategorien.
Der Psychologe und Reformpädagoge Otto Herz hat gesagt: „Käme ein nicht unbedeutender Konzern wie VW auf die Idee zu sagen, wir produzieren die Qualität der Autos jetzt normal verteilt, also wie in der Schule nach der Gaußschen Normalverteilung: Wir produzieren wenige Autos sehr gut, wenige Autos sehr schlecht und die meisten Autos mittelmäßig, dann könnte VW morgen Konkurs anmelden.“
Aber genau das tut die Schule, indem sie Menschen selektiert.
Das „hörende Herz“
Man könnte nun sagen: „Halt, halt, du hast das Beispiel missverstanden. VW braucht doch auch die besten Mitarbeiter*innen, um die besten Autos zu produzieren.“ Ja, natürlich. Aber das Beispiel von Otto Herz hat eine viel tiefere Dimension. In der freien Wirtschaft und im Berufsleben ist ein gewisses Maß an Selektion unvermeidbar. Alle wollen von den besten Chirurg:innen operiert werden. Wer will von einem Chirurgen operiert werden, der in seiner letzten Prüfung eine Vier hatte? Keiner. Selbst hier bringt unser Notensystem nichts.
Betrachtet man die Schule als ein Unternehmen, dessen Aufgabe es ist, Kindern und Jugendlichen das Gefühl zu geben, dass sie in dieser Welt willkommen sind, dann hat die Schule, indem sie selektiert, ihren grundlegenden Auftrag verwirkt. Ich möchte mit einem Satz des Soziologen Hartmut Rosa enden: „Demokratie bedarf eines hörenden Herzens, sonst funktioniert sie nicht.“
Was für ein Ort könnte sich besser eignen, um ein „hörendes Herz“ zu bilden, als die Schule?
Wir alle sind zu klein für die Welt. Niemand reicht sich selbst. Deswegen brauchen wir alle ein „hörendes Herz“. Die erste Hoffnung, die mir Bildung schenken muss, ist, dass ich darauf vertrauen kann, auf ein „hörendes Herz“ zu treffen, wenn ich zu klein für die Welt bin. Für mich hat diese Aussage eine besondere Brisanz, weil ich aufgrund meiner Körperbehinderung buchstäblich zu klein für die Welt bin. Ich brauche jeden Tag so viel Hilfe.
Aber das ist nicht schlimm, wenn ich die Welt als einen Ort kennenlerne, an dem ich immer darauf hoffen darf, auf ein „hörendes Herz“ zu treffen. Die zweite zentrale Hoffnung, die mir Bildung schenken muss: dass ich genug Vertrauen und Hoffnung habe, ein „hörendes Herz“ für andere sein zu können, wenn ich merke, dass sie zu klein für die Welt sind.
Darauf vertrauen zu können, auf ein „hörendes Herz“ zu treffen und genug Vertrauen in mich selbst zu haben, um ein „hörendes Herz“ für andere sein zu können: Das ist Demokratie. Davon bin ich fest überzeugt.
■ Dieser Beitrag ist im Magazin taz FUTURZWEI erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe von taz FUTURZWEI N°31 gibt es jetzt im taz Shop.