Essay über die Mythen des Punk: Beethovenstr. 6, Mönchengladbach
Die DNA des Punk ist auch im Netz-Zeitalter nicht zu entschlüsseln. Gedanken zu Cuntroaches, autonomen Jugendzentren und Google Street View.
Rückblende: Es ist der Eröffnungsabend des Festivals CTM in Berlin, Januar 2018. Im neu eröffneten Club OST spielt ein Haufen rumpelnder Noise-Punks. Eine von ihnen ist das Berliner Trio Cuntroaches. Die Band ist laut, spielt inmitten des Publikums, und das zwischen den Stücken wiederkehrende Feedback sagt gleichermaßen Fuck you, wie es vom Ort Aufmaß zu nehmen scheint. Noch etwas schwebt im Raum, die Geste einer zur Schau gestellten Wildheit: Zeitungen werden zerrissen, Gegenstände ins Publikum geschmissen. Nach 20 Minuten ist alles vorbei. Irgendwas stört und gehört hier nicht hin. Ist das Publikum zu interessiert? Unfähig die (Auto-)Erotik der Selbstzerstörung zu spüren?
Ein paar Monate zuvor im Berliner Kellerclub „Koma F“ spielen Cuntroaches mit der polnischen Hardcore-Band Ohyda. Der Laden gehört zum Köpi in Mitte. Ein Ort, der von seiner gut 30-jährigen Hausbesetzergeschichte gezeichnet ist. Eine verkrustete Zeitkapsel, in der sich Schicht um Schicht zu einem juckenden Mycel verwachsen hat. Ein tiefschwarz, verkrustetes Herzchakra, dessen Lebens-, Liebes- und Leidensgemeinschaften jenseits kapitalistischer Verwertungsparadigmen existieren können.
Die Stufen hinunter ins „Koma F“ empfängt uns das vertraute Feedback und erhellt den Weg vors Bühnenprovisorium. Cuntroaches machen hier nichts anderes als im Club OST – nur ohne Spektakel, Papierschnipsel und Hipster. Klingt ähnlich – und trotzdem komplett anders: Denn der Raum birst vor Energie. Körper glühen, bilden abstrakte Pit-Formationen und lösen systematisch Raum- und Zeitachsen gegeneinander auf. As above so below. Nach einer kurzen Entladung ist Schluss. Und alles im Raum liegen Gebliebene glüht genüsslich vor sich hin. Diese Gegenüberstellung kontrastiert zwei Räume, die kulturell weit voneinander entfernt zu sein scheinen. Der eine Raum so konstituiert, dass er neutral wiedergibt, was in ihn eingespeist wird.
Emotionaler Multiplikator
In diesem Fall ein Elektronikfestival. Und der andere Raum ein emotionaler Multiplikator, der sich energetisch potenziert, sobald die kollektive Betriebstemperatur ihren sozialen Peak erreicht. Eine Vermischung der beiden Szenen gibt es nicht. Dabei gäbe es Gemeinsamkeiten: Beide Orte sind Freiräume in Berlin, wo das Freiraum-Paradigma der Neunziger längst zum Stadtmarketing erhoben wurde. Wichtig ist, was diese Räume verbindet, nämlich dass beide Hülsen sind für Erfahrungen, die alltagsfern, perzeptiv autonom und somit radikal subjektiv sind.
Noch eine Rückblende: Es ist 1978 und Crass, das Londoner Anarcho-Punk-Kollektiv, ist für drei von dem bildenden Künstler Gee Vaucher organisierte Konzerte nach New York gekommen. Vaucher lässt Crass etwa in einem Zentrum für polnisch-amerikanischen Arbeiter spielen, aber nicht im berühmten „CBGBs“. Zur gleichen Zeit ist der französische Soziologe Michel de Certeau in der Stadt. Er arbeitet an seinem Essayband „Walking in the City“. Als Eröffnungsmetapher wählt de Certeau eine panoptisch über alles schwebende Totale.
EA80 live am 6. April im "Kulturzentrum" Mainz
Er beschreibt, wie sein Blick vom 111. Stock des World Trade Center über die Metropole streift und sie so „in einen Text verwandelt, den man vor sich unter den Augen hat“. Das ist der Trigger eines Spatial Turns, in dem Stadtplanung, Hypertext und virtueller Raum in eine neue Soziologie zusammenfließen. Wer hier strukturelle Ähnlichkeit zur Netzwerkforschung sehen will, hat ebenso recht. Denn die Protagonisten heißen Pfad, Link, Knoten, Schnittstelle, Punkt, Markierung und Kreuzung – und sind in ihrer Funktion so austauschbar wie US-Straight-Edge-Bands der dritten Generation.
Ob de Certeau seinem Blick folgte und sich durch New York hat treiben lassen, ist nicht überliefert. Ebenso wenig ist überliefert, ob Sylvère Lotringer ihn bei diesem Umherschweifen begleitete oder ihn an einem der drei Abende mit in einen der besagten Clubs schleppte. Dann wären sich de Certeau und Crass in der gemeinsamen Vermeidung des Offensichtlichen begegnet – und hätten somit eine der von de Certeau erwähnten Figuren bestätigt: In seinem Essay benennt der Franzose die Stadt als zufälliges Zusammentreffen „paroxystischer Orte“ und der „Körper, die von dem Wirrwarr der vielen Gegensätze erfasst (..) und von den Straßen umschlungen sind“. Dafür bedient er sich einer Terminologie der neoplatonischen Dialektik – dem coincidentia oppositorum des Zusammenfalls der Gegensätze.
Verlassen wir New York, bleiben aber auf de Certeaus Textspur. Bitte folgende Adresse bei Google Street View eingeben: Beethovenstraße 6, 4050 Mönchengladbach. Jeder, der einmal ein Album der Band EA80 in Händen gehalten hat, kennt diese Straße. Keine Adresse in Deutschland ist mehr Punk, kein Ort stärker mythisch aufgeladen. Seit der Gründung von EA80 1979 kommuniziert man mit der Band über diese Adresse.
Ob die Nachkriegstristesse des niederrheinischen Städtchens zum Mythos beigetragen hat oder die Beethoven-Referenz, bleibt offen. Fakt ist: Seit damals geben EA80 diese Adresse als Kontakt an. Und seitdem existieren EA80 in nahezu unveränderter Besetzung. Ein Punk-Kontinuum, das hierzulande seinesgleichen sucht. Ein klandestines Kraftfeld in Xerox-Schwarz-Weiß, eine gelebte Totalverweigerung. Melancholisch, wütend und aggressiv, mit ausgeixten Versöhnungsmoment.
Wie eine sozialistische Arbeitskolonne
Und diese Ebene bearbeiten EA80 seitdem wie eine Arbeitskolonne in Erfüllung ihrer sozialistischen Pflicht. In jedem autonomen Jugendzentrum der Republik haben sie gespielt, nie mehr als 5 Euro Eintritt genommen, 13 Alben veröffentlicht und unzählige Singles. All das, was eine Punkband macht, die Punk verstanden hat. Weil Punk eine Lebensflamme ist, die am Lodern zu halten ist. Weil sie wie eine Staffel weitergereicht werden muss. Im Netzwerk, an alle, denen man vertraut. Eingeschworen und konspirativ.
Zurück in die Gegenwart, zu Google Street View und in die Beethovenstraße 6. Besagte Adresse war stets nur eine Postanschrift, ein Wohnhaus. Nie etwas Öffentliches. Doch je öfters man dieser Straße begegnete, desto realer wurde der Ort. Und so wurde in der Vorstellung aus der Schrift (Beethovenstraße 6, 4050 Mönchengladbach) ein Bild.
Das Bild eines inneren Ortes, der dafür stand, in der Welt zu sein und sich dieser trotzdem zu verweigern. Und nun enttäuscht Google gleich doppelt: Die Möglichkeit, besagte Adresse als Hyperlink aufzusuchen, und die eigene Vorstellung mit der Realität gebauter Architektur abzugleichen, ist nicht möglich. Keine Ansicht der Beethovenstraße 6 auf Street View. Mönchengladbach ist von Google ausgespart – wie viele mittelgroße deutsche Kleinstädte, die nicht genügend Klickzahlen versprechen. Google führt also oben beschriebene Verweigerungshaltung fort. Und zerstört kurzerhand – punk as fuck – die Hoffnung, zumindest vor einem geisterhaft verpixelten Haus zu landen, das ein weiterer Baustein im EA80-Mythos sein könnte.
Verflüssigung von Kultur
Ein anderes Gebäude in Mönchengladbach ist auch nicht bei Street View ansehbar: Das Haus ur, welches der Mönchengladbacher Künstler Gregor Schneider in der Unterheydener Straße 12 seit 1985 kontinuierlich umbaute und dessen architektonischer Höhepunkt auf der Venedig Biennale 2001 gefeiert wurde. Schneider versucht, die materiellen Bedingungen von Architektur aufzulösen, ohne dabei das Gebäude von seiner Aura zu trennen. Vorgemacht hatte dies der Architekt Gordon Matta-Clark in seiner Konzeptkunst. Jedoch ist Matta-Clark mit seinen Rauminterventionen nie gereist. Die Idee, dass Gregor Schneider mit dem Haus ur auf Tour geht, wie etwa EA80 auf Konzertreise gehen, ist interessant. Und signifikant für die generelle Verflüssigung kultureller Produktionsbedingungen.
Von seiner Ästhetik her könnte das Haus ur eine Idee von EA80 sein. Auf die Frage, ob sich Schneider und EA80 jemals begegnet sind (wie de Certeau und Crass) gibt es eine Antwort: Das Cover der Split-Single „Japanische Kampfhörspiele vs. Killer“ (veröffentlicht auf dem Label Beau Travail) zeigt zwei Aufnahmen des Kaffeezimmers im Haus ur. Und Killer (oder auch Killerlady) ist das Soloprojekt Martin Kirchers. Kircher ist Sänger von EA80. Solo nimmt er sich alle Freiheiten, die das EA80-Korsett nicht zulässt: Wim Thoelke-Zitate, Japan-Noise und Home Recording. Vor allem legt Kircher Referenzsysteme aus, die wiederum Anknüpfungen zum Schneider’schen Dickicht geben, wie zum Mycel im Club „Koma F“.
Gekürzte Fassung eines Textes, der auf Englisch im Festivalkatalog des CTM-Berlin 2019 erschienen ist. Abdruck mit freundlicher Genehmigung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“