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Es fehlte eine systematische Strafverfolgung –betr.: „Der Weg zur zivilen Nation“, taz-mag 23./24. 1. 99

[...] Tatsächlich war die deutsche Justiz aufgrund des Kontrollratsgesetzes Nr. 4 seit 1945 befugt, über alle Straftaten mit Ausnahme von Verbrechen gegen Angehörige alliierter Nationen und Versuchen zur Wiederaufrichtung des NS-Regimes zu urteilen. Darunter fielen auch NS-Verbrechen an deutschen Staatsbürgern und Staatenlosen. Die meisten NS-Prozesse fanden bis 1949 statt, was fehlte, war eine systematische Strafverfolgung. Ermittlungen wurden in den meisten Fällen durch Anzeigen der Opfer oder durch zufällige Erkenntnisse ausgelöst. Anfang der 50er Jahre nahm deshalb die Zahl der Strafverfahren stark ab, nachdem die überlebenden Opfer ausgewandert waren. Weitgehend unbehandelt (abgesehen von den alliierten Verfahren gegen das Personal verschiedener Konzentrationslager) blieben zunächst der Holocaust und die Verbrechen der Einsatzgruppen von SS und SD bzw. der Wehrmacht in den besetzten Gebieten.

Worauf Micha Brumlik anspielt, ist wahrscheinlich diese „trügerische Ruhe“ während der 50er Jahre, in denen sich Politiker und Bevölkerung sicher waren, daß zum einen der überwiegende Teil der Verbrechen geahndet worden war und zum anderen endlich ein Schlußstrich gezogen werden müsse. Die Sicherheit wurde erst 1958 (und nicht 1963) durch den Ulmer Einsatzgruppenprozeß erschüttert. Den angeklagten ehemaligen Polizisten wurde nachgewiesen, daß sie in den besetzten Gebieten Tausende von Juden ermordet hatten. Zustande gekommen war das Verfahren durch den Versuch des Leiters der Einsatzgruppe, seine Wiedereinstellung in den Polizeidienst zu erklagen. Ein Zeitungsleser erkannte den Kläger wieder und zeigte ihn an.

Noch im selben Jahr (1958) wurde die Ludwigsburger Zentrale Stelle gegründet, die die Arbeit der Landesjustizverwaltungen koordinieren und vor allem systematische Ermittlungen über Tatkomplexe (statt gegen einzelne Täter) aufnehmen sollte. Zwar machte sich die Arbeit der Zentralen Stelle wirklich Anfang der 60er Jahre in einem Anstieg der eingeleiteten Ermittlungsverfahren bemerkbar, aber die Folgerung, eine Strafverfolgung von NS-Verbrechen habe erst zu diesem Zeitpunkt eingesetzt, ist schlicht falsch. Jan Bruners, Köln

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