Tanzsport: Es darf auch mal bescheuert aussehen
Wenn unsere Autorin „Gaga“ tanzt, wird sie zu einer Spaghetti im heißen Wasser. Bei der Tanzpraxis bewegen sich Menschen ohne Spiegel oder Publikum.

Das ist kein Traum, sondern eine Szene aus einer meiner letzten Tanzstunden. „Stellt euch vor, ihr seid Bodybuilder, die im Meer schweben und versuchen dabei zu tanzen“, lautete die Anweisung der Lehrerin. Im nächsten Moment ruft sie: „Travel!“, und plötzlich beginnen alle, durch das Studio zu rennen und herumzuspringen, als wären sie eine Herde wilder Pferde. Klingt verrückt? Genau das ist die Idee hinter Gaga: Tanzen als Bewegungssprache, nicht um der Performance willen. Das kann und darf auch mal bescheuert aussehen.
Seit sechs Jahren tanze ich Gaga, bis zu drei Mal pro Woche. Mein erster Versuch endete damit, dass ich wieder nach Hause zurückfuhr, ohne das Tanzstudio überhaupt betreten zu haben. Im Vorfeld hatte ich mir Videos angeschaut, und während ich in der Schlange stand, musste ich mir eingestehen, dass ich mich nicht traute. Sich frei bewegen – umgeben von all diesen unbekannten Menschen, die superfit wirken? Nee. Dann versuchte ich es noch einmal und wurde direkt süchtig.
„Du tanzt zu Lady Gaga?“, fragen viele, wenn ich vom Gaga-Tanz erzähle. Tatsächlich hat der Begriff nichts mit der Pop-Ikone zu tun. Er kommt aus dem Französischen und wird für jemanden verwendet, der verwirrt oder senil ist. Gaga ist eine Tanzpraxis, die der israelische Choreograf Ohad Naharin in den neunziger Jahren entwickelte, während er die Batsheva Dance Company in Tel Aviv leitete. Nach einem Unfall konnte er sich wegen einer Rückenverletzung nur eingeschränkt bewegen. Aus dieser Erfahrung erwuchs das Konzept, bei dem jede Person nach ihren persönlichen Möglichkeiten mitmachen kann. Heute wird Gaga weltweit in Tanzkompanien, Studios und Workshops unterrichtet und sowohl von Laientänzer*innen als von Profis getanzt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Wären meine Kreuzbänder nicht gerissen und vor knapp vier Monaten operiert worden, würde ich nicht ganz hinten neben den zusammengeschobenen Ballettstangen sitzen und auf dem Stuhl tanzen. Ich stünde so nah an der Lehrerin wie möglich, damit ich sie besser hören und sehen kann, aber auch, damit sie mich sieht. Der kleinen Streberin in mir gefällt es, die Favoritin zu sein. Ich mag es, dass sie bemerkt, dass ich nicht nur Spaß habe, sondern auch, dass ich Fortschritte mache.
Schütteln im Liegen, wie bei einem Exorzismus
Mein Körper versteht vieles besser als damals, als ich noch Anfängerin war. Zum Beispiel dass, wenn ich meinen Zeh bewege, auch mein Schlüsselbein davon beeinflusst wird. Oder sich die Wirbelsäule so fließend und flexibel wie Seetang anfühlen kann. Mit ein wenig Vorstellungskraft lässt sich irgendwann jeder Wirbel eigenständig ansteuern.
Was ich ebenfalls gelernt habe: Die Bewegung ist im Körper schon da, wenn man nur richtig „zuhört“. Flüssigkeiten, Organe, Zellen – in unserem Inneren herrscht niemals völlige Ruhe, alles strömt, klopft und schwingt. Man muss das, was da drinnen ist, nur nach außen tragen.
Aber seit ich verletzt bin und mich zurückziehen muss, hat sich noch etwas verändert. Durch Gaga fühle ich mich trotz meiner körperlichen Einschränkung nicht vulnerabel, sondern genieße es, dass ich trotzdem die Freiheit habe, mich zu bewegen. Ich bin unabhängiger von den Blicken der anderen geworden. So erkenne ich, dass Tanzen mich immer glücklich macht – nicht nur, wenn ich im Vordergrund stehe.
Bei Gaga gibt es keine Zuschauer*innen, nicht einmal unsere eigene Reflexion: die Spiegel werden bedeckt. Gleichzeitig hält man die Augen offen, so eine weitere Regel, um die anderen besser wahrzunehmen, sich von ihnen inspirieren zu lassen und mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Es geht bei Gaga vor allem um Freude, an sich und an den anderen. Physischen Kontakt zwischen Teilnehmer*innen gibt es keinen.
Wer eine Pause braucht, muss den Raum verlassen. Eine Stunde tanzen wir sonst ununterbrochen, inklusive der Lehrer*in, die Intensität der Bewegungen dürfen wir je nach Verfassung an unsere Energie und Stimmung anpassen.
An diesem Tag bin ich so ergriffen, dass alle für mich tanzen, dass ich heulen könnte. Als uns die Lehrerin auffordert, im Wasser zu treiben – „Float!“ –, kommen alle zur Ruhe, die Bewegungen werden langsamer, jede*r findet einen neuen Platz im Raum. Ich werde vergessen. Dann folgt einer meiner Lieblingsmomente: Wir liegen auf dem Boden und atmen ein und aus. Ich stelle mir vor, dass wir auf einer Wiese voller Tau liegen, frühmorgens oder spätnachmittags, als würde aus all unseren Atemzügen eine Feuchtigkeit aufsteigen, die sich wie eine leichte Schicht über uns ausbreitet.
„Ihr seid wie Spaghetti im heißen Wasser“, heißt es als Nächstes, und dann schütteln wir uns im Liegen wie bei einem Exorzismus, während wir laut von 10 bis 0 zählen.
Betrachtet man Tanzen nicht nur als Praxis, sondern auch als Sprache, ist die Geschichte natürlich besonders wichtig. Vielleicht befinden sich die Lehrer*innen bei Gaga deshalb in der Mitte der Runde, als wären sie Märchenerzähler*innen. Sie sagen nicht: „Spannt euren Körper an!“, sondern laden dazu ein, uns vorzustellen, dass wir uns durch dicken Honig bewegen. Es heißt nicht: „Streckt euch aus“, sondern: „Sucht den maximalen Abstand zwischen euren Extremitäten“. „Piece of cake!“, das ist doch nichts, sagen einige Lehrer*innen, wenn es besonders anstrengend wird. Bringt man die Schultern aus ihrer gewohnten Position, gehen sie „spazieren“. Lässt beim Tanzen jemand seine Arme hängen, heißt es: „Die Arme sind nicht tot!“ All das ist aber kein bisschen esoterisch, sondern sehr pragmatisch und vor allem spürbar.
Bei Gaga sind wir nicht nur Bodybuilder oder Spaghetti, sondern manchmal auch Drummer, die ihren eigenen Körper als Schlagzeug benutzen. Oder Läufer*innen. Ohne uns vom Fleck zu bewegen, rennen wir, so schnell wir können. Ich „laufe“ nur mit den Armen und versuche, meine Füße und Beine stillzuhalten. Doch die Geschwindigkeit, das Schwitzen und die sichtbare Erschöpfung meiner Mittanzenden erfüllen mich mit Freude. Und mit Power. Ich bin noch nie müder aus einer Gaga-Stunde gegangen, als ich gekommen bin.
Am Ende der Stunde eilen die meisten Teilnehmer*innen zu ihren Wasserflaschen, beginnen sich zu stretchen oder huschen in die Umkleide und gehen unter die Dusche. Aber einige, ich eingeschlossen, tanzen weiter, bis wir irgendwann aus dem Studio geschmissen werde
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!