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ErzählfadenFeiner Pinselstrich: In Anna Weidenholzers neuem Roman blitzt echte Empathie aufDas kleine Glückam Grill

Für sie geht es nach oben, bei ihren Figuren ist das nicht so sicher: Anna Weidenholzer Foto: Isolde Ohlbaum/ laif

von Christoph Schröder

Die entscheidende Frage lautet: Warum? Warum forscht Karl Hellmann? Und wonach? Das will der Mann wissen, der vor dem Supermarkt Brathähnchen verkauft. „Karl und der Mann schweigen, sie sehen den Hühnern zu, die sich auf der Stange drehen. Wir möchten folgender Frage nachgehen, beginnt er und denkt: Ich weiß es doch auch nicht mehr. Wir möchten herausfinden, wie zufrieden, kurz gesagt, möchten wir festhalten, wie das Leben hier ist.“ Das könnte glatt eine Loriot-Szene sein. Wie überhaupt Karl Hellmann eine Figur sein könnte, die aus einem leicht angeschrägten melancholischen Film entsprungen sein könnte.

Unter welchen Bedingungen, das ist die Grundfrage, ist ein zufriedenes Leben möglich?

In Bhutan gibt es tatsächlich einen seit dem Jahr 2006 erarbeiteten Glücksfragebogen, der 113 Seiten lang ist und dessen Beantwortung einen ganzen Tag dauern kann. Als Ergebnis soll am Ende ernsthaft das sogenannte Bruttonationalglück ermittelt werden. Ein Glücksforscher also ist Karl Hellmann. Der pensionierte Lehrer hat sich eines Tages einfach auf den Weg gemacht, hat sein Haus und auch seine Frau Margit zurückgelassen, um in einem kleinen, willkürlich gewählten Skiort anzukommen. „Dreihundertvierundsiebzig Kilometer“, jedes Kapitel trägt diese Überschrift, von zu Hause weg. Mit dem Glücksfragebogen im Gepäck.

Die junge Österreicherin Anna Weidenholzer, die mit ihrem ersten Roman, „Der Winter tut den Fischen gut“, auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises stand, ist für ihren neuen Roman für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert worden. Was Weidenholzer auszeichnet, sind ein enorm feiner Pinselstrich, ein exzellenter Blick für das Detail und die Gabe, scheinbar erratisch von ihrem (ohnehin äußerst losen) Plot abzuschweifen, ohne dabei den Erzählfaden zu verlieren. Das Ambiente, in dem Karl Hellmann ankommt, ist in liebevoller Genauigkeit ausstaffiert. Es ist November; im Dorf wartet man sehnsüchtig auf den ersten Schnee, damit die Touristen kommen. Doch eine Aura des Morbiden liegt über alldem. Auch über dem Hotel Post, in dem Karl, zunächst als einziger Gast, ein Zimmer bezieht. Die Wirtin führt ein strenges Regiment; die Heizung ist bei Verlassen des Zimmers herunterzudrehen; die Vollbäder, die Karl gern zur Entspannung nimmt, sind auf ein Minimum zu reduzieren.

„Weshalb die Herren Seesterne tragen“ (allein schon der Titel ist wiederum der Verweis auf eine höchst seltsame Geschichte) ist ein Kosmos aus kleinen Alltagsskurrilitäten und traurigen Vereinzelungstendenzen. „Wer eine gesellschaftliche Situation verstehen will“, so denkt Karl sich zu Beginn seiner Reise, „muss die Erfahrungen der Menschen zum Sprechen bringen.“ Karl Hellmanns Problem ist allerdings ein Distanzproblem. Zum einen erhebt der alte Herr einen streng wissenschaftlichen Anspruch, weswegen er seinen Probanden keine Namen, sondern lediglich Abkürzungen zuteilwerden lässt: M1, M2, M3 für die Männer, für die Frauen dann das F. Zum anderen aber ist Karl ein zutiefst empathischer Mensch. Ein Einzelgänger, der nichts lieber hätte, als nicht einsam zu sein. So tastet er sich heran an den Alltag seiner insgesamt nicht unbedingt auskunftswilligen Testpersonen. Unter welchen Bedingungen, das ist die Grundfrage, ist ein zufriedenes Leben möglich? In kurzen Szenen und Aufzügen umkreist Anna Weidenholzer Karls Bemühungen und porträtiert dabei ganz nebenbei die Dorfbewohner und deren Eigenheiten und Tristessen. Der Bruttonationalglücksfaktor, so viel steht zu vermuten, dürfte hier nicht allzu hoch sein.

Und noch etwas wird spürbar: dass Karls Forschungsreise möglicherweise nicht nur die Bewegung zu etwas hin ist, Erkenntnis beispielsweise, sondern auch von etwas weg. Margit, die abwesende Ehefrau, wird zur ermahnenden, ermunternden Stimme. An den Abenden ruft Karl sie immer wieder an und bittet um Rückruf. Es ist zu ahnen, auf welches Ende der Roman zulaufen wird. Das macht ihn keineswegs schlechter, zumal Anna Weidenholzer auch hier mit dezenten Andeutungen arbeitet. Auch das ist eine Kunst: einen Text so präzise in der Schwebe zu halten, ohne ihn zu verraunen oder sein Geheimnis zu verraten.

Anna Weidenholzer: „Weshalb die Herren Seesterne tragen“. Matthes & Seitz, Berlin 2016, 192 Seiten, 20 Euro

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