Erster Teil „Nymph()maniac“: Die vielen Gesichter der Lust
„Nymph()maniac“ ist der bisher zärtlichste Film von Lars von Trier – obwohl der Regisseur weiter der Spur von Getriebenen und Selbstzerstörern folgt.
Wie ein schnüffelndes Tier, stets in Sorge, die Fährte zu verlieren, so führt uns die Kamera durch ein dunkles und niedriges Labyrinth aus Gängen und Gewölben, um uns schließlich auf eine leblose Gestalt zu stoßen, die im letzten Winkel, einem Verlies gleich, verlassen daliegt. Eine andere Gestalt verlässt die Wohnung und macht ihre spärlichen Einkäufe. Auf dem Rückweg begleiten wir sie durch dieselben Gemäuer, wo jeder Mensch geduckt geht, als würde der inquisitorische Geist mittelalterlicher Gnadenlosigkeit noch heute ungebrochen lasten.
Lars von Trier lässt mit diesem Einstieg keine Zweifel aufkommen: Er wird ins Tiefste gehen, sicher auch ins Höchste, und – wie schon der Titel „Nymph()maniac“ verheißt – er wird sich einer der Kräfte annehmen, die Menschen zu Getriebenen macht, die Kontrolle verlieren lässt, ausweglos, schutzlos, verletzt und hingeworfen wie eine erlegte Beute, niedergestreckt von den eigenen Kräften.
Von Trier hat sich in seinen Filmen für alle Formen der Selbstzerstörung interessiert, für das Abgründige und Unergründbare, er hat sich der Depression gewidmet, dem Bösen, der Aufopferung, dem Schmerz angesichts des Todes, dem Tod selbst und immer wieder der Sexualität. Es sind Befragungen, die er mit seinen großen Motiven in jedem Film vornimmt, und er spannt sie meist auf noch größere Koordinaten: aufs Religiöse, Göttliche, Teuflische, Moralische, und aufs Kosmische – bis ins All hinaus spannt er die menschlichen Fragen.
Dieses Mal ist es also die Lust, die stets noch mehr verheißt.
Die Gestalt, die mit dem Einkauf in ihre Wohnung zurückwill, erweist sich als älterer Junggeselle namens Seligman (Stellan Skarsgård), der sich zu dem leblos wirkenden Körper herunterbeugt. Joe (Charlotte Gainsbourg) öffnet langsam die Augen. Schon mit dem ersten Dialog zwischen den beiden ahnt man, dass große Fragen nicht kleiner werden, wenn sich schräge Antworten dazu finden.
Kein Interesse am Urteil
Seligman hilft ihr auf, bringt sie zu sich in die Wohnung, lässt sie in einen Pyjama schlüpfen und dann ins Bett. Nachdem er ihr einen Tee gebracht hat, beginnt ihr Sprechen darüber, wie unermüdlich sie nach Sex suchte und wie sie dabei eine ganze Armee an Opfern und Verletzten produzierte. Joes Sprechen ist ruhig und entschieden, sie sucht nicht nach Erklärungen, auch nicht nach einer Absolution, ihr Sprechen ist keine Beichte, die ihr Seligman abnehmen könnte. Joe selbst ist ihr eigener Richter, hart, fast inquisitorisch, und sie kennt ihr Urteil; Joe will sich richten. Doch Seligman will ihr den Gefallen nicht tun.
Er ist ein aufmerksamer Zuhörer, der nicht am Urteilen interessiert ist, sondern am Phänomen selbst – und vor allem an den Ähnlichkeiten, die er zum Beispiel als Fliegenfischer in Bezug auf seine Fische erkennt. So verzahnt sich ein Sprechen über die Verwerflichkeiten einer Nymphomanin mit den Beobachtungen und Erkenntnissen eines Fliegenfischers.
Ordnung der Zahlen
Joe hält an ihrer Verwerflichkeit fest, doch neigt sie in einer Mischung aus Eigensinn und Nüchternheit dazu, über das Geschehene gewisse Ordnungen anzulegen: Den ersten Sex, den sie als Teenager von einem etwas älteren Jungen erbittet, erinnert sie über die Anzahl der Stöße in sie hinein. Während Joe sich in trockener Brutalität entjungfern lässt, stehen die Zahlen vor uns im Bild; wir haben die Möglichkeit, uns das Geschehen anzutun oder uns an den Zahlen festzuhalten.
Ein reiches, bewegliches Gefüge stellt sich ein: ein Dialog, der keinen Konsens ergeben kann, dafür aber voller schiefer Überraschungen ist, mit Rückblenden dessen, was Joe erzählt und erinnert (die junge Joe wird von Stacy Martin gegeben), und mit den Assoziationen des grüblerischen Fliegenfischers, der alles aufmerksam verfolgt und frei verbindet. Das Gefüge scheint dem musikalischen Prinzip der Vielstimmigkeit zu folgen, das Seligman anhand von Bachs Chorälen beschreibt, als Joe gerade versucht, in drei unterschiedlichen Liebhabern eine eigene Logik auszumachen.
In all der Vielstimmigkeit ergibt sich doch so etwas wie ein harmonisches Ganzes – oder, bezogen auf den Film, eine komplexe Sache.
Lars von Trier hält sich zurück mit Aussagen über diese exzessive Art von Sexualität, auch spannt er keine brachialen Thesen über sie; er lässt die Lust Lust sein, und die zeigt uns dafür ihre vielen Gesichter. Die Lust scheint alles, was Joe hat, und auch wenn dies das Traurige ist, sie gibt ihr auch alles, was möglich ist. Noch trauriger ist es, wenn diese Lust plötzlich aufhört. Doch davon erzählt der zweite Teil von „Nymph()maniac“, der Anfang April ins Kino kommt.
Der Schock des Todes
Ähnlich verhält es sich mit den Erklärungen darüber, woher eine solch ausgeprägte Lust kommen mag. Trier bietet Anhaltspunkte, die gefühlskalte Mutter, der frühe Tod des geliebten Vaters. Angesichts der Schockstarre, in die diese Sterbeszene einen versetzt, mag es naheliegen, auch Joe in dieser Starre zu vermuten, die allein ihre Sexgier aufzubrechen vermag.
Doch neben den vielen Gesichtern der Lust ist es Joe selbst, die eine einfache Erklärung ausschließt. Joe ist keine Kranke, wenn auch verletzt, das Bett ist zwar ein Krankenbett, doch sorgt es für ein Innehalten, ein Erzählen. Sie ist jene, die spricht und fragt, ihr persönlicher Blick, ebenso wie der von Seligman, bestimmen die Geschichte.
„Nymph()maniac“. Regie: Lars von Trier. Mit Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgård, Stacy Martin u. a. DK/D/F/B/GB 2013, 118 Min.
Von Trier hat den Figuren und den Darstellern den Vortritt gelassen und sich zurückgehalten, wo er in anderen Filmen dazu neigte, seine Figuren vor seine Thesen zu spannen. Dieses Kleinerwerden macht den Film umso größer, es ist Triers zärtlichster.
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