Erste Messung: Fünf Zentimeter

Wie dick ist das Eis? Wie viele Schlittschuhläufer müssen gewarnt werden? Solange die Gewässer zugefroren sind, ist die Wasserschutzpolizei Spandau im Auto unterwegs. Die Herren Stumpenhusen, Bienert und Matuschke sind der Eiswarndienst

„Könn’ wa drauf?“ Die Frage können die drei Polizisten immer nur mit Nein beantworten

von ANNE HAEMING

„Eine Schweinekälte!“ Polizeihauptmeister Stefan Bienert lässt sich auf den Fahrersitz plumpsen. „Zum Glück haben wir Standheizung.“ Die ist fast der wichtigste Bestandteil im Eiswagen der Spandauer Wasserschutzpolizei. Denn ihre Einsätze sind frostig, nach ein paar Minuten friert der stärkste Mann.

Es ist der erste Arbeitstag des Eiswarndienstes in dieser Saison, gerade hat die Dreierschicht Matuschke, Stumpenhusen und Bienert die erste Messung hinter sich gebracht. Ergebnis: Bürgerablage Spandau, gute fünf Zentimeter, geschlossene Eisdecke, niemand auf dem See, also keine Verwarnungen. Erst am Morgen hatte das eingespielte Team die Order erhalten: von sieben bis sieben Schichtbetrieb zu Lande, nicht zu Wasser. Das heißt, sie fahren ihre blauen Seefahreruniformen im grünen Polizeiwagen durch den Bezirk Spandau, der Bootsstreifendienst ist bis auf weiteres eingestellt.

Dieser Wechsel ist jedes Jahr fällig, sobald die Gewässer mit einer geschlossenen Eisdecke überzogen sind. „Unsere Boote sind keine Eisbrecher“, erklärt Polizeikommissar Wolfgang Matuschke. „Schon Treibeis ist gefährlich für die Schiffe.“ Aber die Arbeit der Wasserschutzpolizei geht natürlich auch in der Eiszeit weiter, sogar noch weiter als im Sommer. Denn während sie bei Plusgraden nur für die Flüsse und Kanäle zuständig ist, muss sich der Eiswarndienst auch um die Seen kümmern. Oder eher: um die Schlittschuhbahnen.

„Könn’ wa drauf?“ ist die Frage, die den drei Eismännern bei ihrer Schicht am häufigsten gestellt wird. Das können, ja dürfen sie nicht mit Ja beantworten. „Wir geben das Eis nie frei, egal wie dick die Schicht ist“, betont Matuschke. „Niemand weiß, ob und wo wärmere Strömungen fließen, die Gewässer sind nie gleichmäßig zugefroren.“ Wer trotzdem Schlittschuh fahre, handele komplett auf eigene Verantwortung. Was die drei eher beschäftigt, sind Fragen wie: Wie dick ist das Eis auf welchem See? Wie schnell können wir eingebrochene Schlittschuhläufer aus dem Wasser ziehen?

Nächste Station, Hubertussee. Er ist bekannt als der kälteste See Berlins, die ersten Eisläufer dekorieren die Spiegelfläche mit Schnörkelmustern. Als unscharfe rotschwarze Punkte gleiten sie dahin, drei größere, zwei kleinere. Die Schupos wechseln ein paar Blicke, Tür auf, raus ins Kalte. Erst mal messen. Polizeikommissar Stumpenhusen geht vorsichtig ein paar Schritte vom Ufer weg, er schwingt die Axt. Die Schläge lassen die ganze Fläche dumpf vibrieren, kurz darauf holt der Kommissar einen weißen Klotz rauf, das Eispapier wirkt gelocht. „Wir haben auch noch einen Eisbohrer“, erklärt er. „Aber das dauert zu lange.“

Jetzt kommt das Messinstrument zum Einsatz, Marke Eigenbau. Es erinnert stark an einen Schaschlikspieß für Leute mit großem Appetit, der Metallstab ist gut einen halben Meter lang. Stumpenhusen taucht ihn in das Schwarz im Weiß. Ein Blick auf die Markierung, sechs Zentimerter waren im Wasser.

„Machen Sie uns unser Eis kaputt?“ Eine Schlittschuhläuferin kurvt heran. Stefan Bienert waltet seines Amtes. „Sie wissen, dass das gefährlich ist, oder? Die Eisdecke ist nicht tragfähig, wir haben hier nur sechs Zentimeter gemessen. Da drüben ist sogar Wasser auf dem Eis.“ Er deutet auf den See: „Sind das da Ihre Kinder?“ Um das Sumpfige fahre sie herum, und nein, die Kinder gehörten nicht zu ihr. Sie gleitet davon, Stefan Bienert ruft ihr noch was von Vorbildfunktion hinterher.

„Da werde ich richtig grantig“, regt sich der Hauptmeister auf. „In all den Jahren habe ich keinen Einzigen überzeugen können, vom Eis zu gehen.“ Inzwischen hat sich der echte Vater genähert. Ein ehemaliger Eishockeyspieler. „Ich kann das einschätzen, ich bin am Tegeler See aufgewachsen.“ Um seine Sprösslinge macht sich Bernd Voigt keine Sorgen. „Das ist meine Verantwortung.“

Aber was, wenn in dieser Sekunde eines der Kinder einbrechen würde? Zumindest würde schnell klar werden, warum die Heizung zwar heiß geliebt, aber bei weitem nicht der wichtigste Teil des Eiswagens ist.

Blitzartig würden sich die Wasserschutzpolizisten Stumpenhusen, Bienert und Matuschke in den Retter, den Leinenführer und den Teamführer verwandeln und zum Fahrzeug sprinten. Zwar muss jeder alles können, aber weil Stumpenhusen der sportlichste ist, Matuschke Rückenprobleme hat und Bienert der Technikfreak ist, hat sich diese Arbeitsteilung in den vergangenen fünf Wintern bewährt. Dann Schlauchboot blitzaufpumpen, die große blaue Sporttasche schnappen, vielleicht noch die Brechstange oder den Bolzenschneider und zurück zum See. In der Tasche ist ein orangefarbener Overall, Einheitsgröße, die Arbeitskleidung des Retters. Stumpenhusen würde mit seinem grünen Trainingsanzug im so genannten Helly Hansen verschwinden. „Diesen Überlebensanzug haben eigentlich nur die Leute auf Bohrinseln“, erklärt Bienert. „Mit dem können sie zur Not Tage und Wochen im Wasser sein, er hat einen Auftrieb wie ein Rettungsring.“ Angeleint an Wagenheck und Leinenführer müsste der Retter auf die Einbruchstelle zurobben, der Teamleiter koordiniert den Einsatz im Hintergrund.

Als der Eiswagen in Richtung Flughafensee aufbricht, senkt sich die Dämmerung über den Hubertussee und die Eisläufer darauf. Es ist der letzte Einsatz des Tages, bei Dunkelheit wird nicht gemessen. Das Funkgerät rauscht. „Wir haben gerade 30 Kinder vom See gejagt“, meldet ein Kollege aus einem anderen Berliner Bezirk.

„Als Kind bin ich auch auf jeden Ententeich gegangen, sobald er zugefroren war“, erinnert sich Bienert. Ihre Arbeit hat die drei Herren vom Eiswagen vorsichtig gemacht. „Ich bin weiß Gott keine ängstliche Type“, fügt der Polizeihauptmeister hinzu, „aber aufs Eis gehe ich höchst ungern.“

Im Gegenteil zu manchem ehemaligem Kollegen. Vor ein paar Jahrzehnten patrouillierte sogar eine Schlittschuhstreife die Ufer entlang. Und Matuschke kann sich an einen alten Dienststellenleiter erinnern, der passionierter Paarläufer war und zur Freude des Reviers regelmäßig seine Pirouetten drehte. Der Flughafensee glitzert durch die Bäume. Von Eis keine Spur.