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Erstaunliche Entdeckungen

■ betr.: „Das Irrlicht des Gemein sinns“, taz vom 6. 2. 95

Seit einiger Zeit schon bemühen sich „Hintergrund“ und „Kultur“ der taz um Artikel zur Frage „wo steht die Linke nach '89?“. Interessanterweise scheinen die meisten AutorInnen diese Frage mißzuversehen. Es geht ihnen nicht um den momentanen Ort der Linken, sondern – und vielleicht ist es dies, was alle Linken einigt – von vorneherein um eine Zielutopie. Solche Zukunftsentwürfe des „Die Linke sollte...“ bestimmen noch die schlaueste Analyse des Werdegangs bürgerlichen und antibürgerlichen Denkens, ohne daß diese Analysen je auf etwas anderes als auf die jeweilige persönliche Ausstattung an politischer Moral hinwiesen. Da niemand eine konsensfähige Zukunftsvorstellung besitzt, geraten die meisten Artikel zu einer Art von Bekennerbrief, der mit mit analytischem Aufwand und doch unverkennbarer Lustlosigkeit im Trümmerhaufen der sogenannten nachsozialistischen Ära herumstochert, um noch das ein oder andere Brauchbare zu Tage zu fördern. Hierbei werden erstaunliche Entdeckungen gemacht.

Hatte noch am 23. Januar („Unserer Zeit fehlt der ethische Schwung“) Sybylle Tönnies in einem rasanten Dreisprung den „ethischen Schwung“ der Aufklärung durch die Hinterwelten eines Thomas Mann hindurch in die vor uns liegende Gegenwart zu schleusen versucht, erkannte am 6. Februar Micha Brumlik in einem solchen ethischen Gemeinsinn ein „Irrlicht“ und erklärte statt dessen den bei weitem nicht neuen aber immer wieder bezwingend erscheinenden Linksliberalismus zur Fahne, unter der die Linke in Zukunft zu wandeln habe. Beide Artikel sind typisch für den links-theoretischen Diskurs der 90er: Auf der einen Seite immerhin gewagte Experimente mit zusammengesetzten Reststücken und auf der anderen der Jargon der Nüchternheit; auf der einen Seite der Ruf nach Gemeinsinn und Ethik, auf der anderen der nach rationalen Werten wie Freiheit und Gleichheit; auf der einen Seite Rückbesinnung auf schon Gedachtes, auf der anderen Einsicht in das Immer-schon-Gewußte.

Wie schon bei der von Brumlik erwähnten Kommunitarismusdebatte der gemeinsame Denkrahmen durch eben diejenigen Gegensatzpaare (Gemeinschaft/Gesellschaft, Individuum/Kollektiv etc.) gebildet wurde, die eigentlich zur Disposition hätten stehen müssen, so haben auch Brumlik und Tönnies gemeinsame Grundansichten, die sich hinterfragen ließen. Unter diesen sticht vor allem der paradoxe Umstand hervor, daß beide, obwohl sie doch den Standort der Linken neu bestimmen wollen, genau zu wissen scheinen, was Links- Sein ist. Von hier aus wird dann behauptet, daß diesem Links-Sein heute Grenzen auferlegt seien, die es entweder zu durchbrechen gilt (Tönnies) oder in die man sich fügen muß (Brumlik). Wie kommt man auf so was?

Als wäre die Geschichte der westlichen Linken ein einziges großes Kontinuum von unveränderlichen Werten, die mit den Unmenschlichkeiten des real existiert habenden Sozialismus diskreditiert wurden. Allerdings sind sozialistische Wertvorstellungen durch ihre zwanghafte Realisierung unbrauchbar geworden, aber wer will denn ernstlich behaupten, daß alles, was sich im Westen links nannte, diesen Wertvorstellungen verpflichtet gewesen sei? Übertragen auf den Osten hieße das, sämtliche Reformer zu Rechten zu machen.

Mir scheint, daß sich die von Brumlik und Tönnies repräsentierte Entscheidung für entweder neue Ethik oder Liberalismus bei allem postmodernen Gejammere letzlich der Logik des kalten Krieges verdankt. Anstatt die Öffnung des Eisenern Vorhangs als Entgrenzung und Anstoß zu neuen Möglichkeiten der Linken zu betrachten, wird sie als Begrenzung der Linken wahrgenommen, als ein Einsperren in den goldenen Käfig der liberalen Marktwirtschaft. Dabei sind auch dessen Gitterstäbe brüchig geworden. Man kann eine Grenze nicht nur von einer Seite öffnen, ohne daß man die Grenze als solche zum Verschwinden brächte. Daß mit einem solchen Prozeß Ordnungen auseinanderfallen, insbesondere solche moralisch-politischer Natur, ist unumgänglich. Und genau das scheint alle von rechts bis links zu beunruhigen: Schnell werden neue aufgebaut, und die Nation – ob als Staat, Volk, Gemeinschaft, Verfassung oder Kultur – scheint die nächstliegende Lösung zu sein.

In einem solchen Klima gerät jedes kritische Denken, das sich keinen Werten verpflichtet, paradoxerweise sofort unte Ideologieverdacht: Entweder als Anti-Gemeinsinn (böse Diskurs- und Sprachspieler bei Tönnies) oder als Anti- Anti-Gemeinsinn (böse Kulturpessimisten bei Brumlik). Hinter diesen Neo-Feindbildern verschanzt, werden sehr persönliche Zukunftsvorstellungen entworfen, die, alle mit viel Historie begründet, in sich widersprechender Einmütigkeit neu-alte Ordnungen zu zimmern versuchen – und kein Mensch fragt nach dem Potenzial post-ideologischer Unordnung. Christian Geulen, Bielefeld

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