: Erst Panik, dann Schockstarre
Brüssel Bomben am Flughafen und an einer zentralen U-Bahn-Station – dann brechen der Verkehr und das Mobilfunknetz zusammen: Der Tag, an dem Terroristen die Kapitale der EU lahmlegten
Aus Brüssel François Misser und Eric Bonse
Marie und Ana haben überlebt. Die beiden EU-Angestellten, jeweils im Kommissionsgebäude und im Sitz des EU-Parlaments, gehören zu den vielen Tausenden von Menschen in Brüssel, die jeden Morgen im Berufsverkehr an der U-Bahn-Station Maelbeek aussteigen, nur wenige hundert Meter von ihren Arbeitsplätzen entfernt, im Herzen des Europaviertels der belgischen Hauptstadt. Maelbeek war an diesem Dienstag, dem 22. März, kurz nach 9 Uhr, das Ziel des zweiten Terroranschlags.
Kurz vor 8 Uhr haben sich in der Abflughalle des internationalen Flughafens Brüssel-Zaventem zwei Explosionen ereignet: Ein Mann sprengt sich in die Luft, kurz darauf erschüttert eine zweite gewaltige Explosion die Halle. Körper werden durch die Luft geschleudert, Panik bricht aus. Zunächst ist noch nicht klar, ob es sich um einen Unfall handelt – oder um ein Attentat. Gut eine Stunde später explodiert mitten in Brüssel im mittleren Wagen einer aus drei Wagen bestehenden U-Bahn ein Sprengsatz. Der Zug hat sich gerade aus dem Bahnhof Maelbeek in Richtung Arts-Loi in Bewegung gesetzt und den Bahnsteig noch nicht verlassen.
Nach amtlichen Angaben vom Nachmittag haben die Anschläge mindestens 34 Tote gefordert – 14 am Flughafen, 20 in der U-Bahn – und Hunderte Verletzte – 90 am Flughafen, über 100 in der U-Bahn. Die Zahlen steigen stündlich. Am späten Nachmittag wird berichtet, der sogenannte Islamische Staat (IS) habe sich zu den Anschlägen bekannt.
Es war eigentlich ein sonniger Frühlingsmorgen in Brüssel gewesen. Die knapp zwei Millionen Einwohner der belgischen Kapitale bereiteten sich auf die Osterferien vor, die in Belgien erst am Karfreitag beginnen. Der Flughafen Zaventem im Norden der Stadt war voller als sonst, Tausende Touristen sammelten sich in der Abflughalle. Sie ahnten nicht, dass sie das Ziel einer Terrorattacke werden sollten. Wenig später bestand kein Zweifel mehr: Ganz ähnlich wie Paris im November 2015 oder auch London im Juli 2005 ist nun auch Brüssel Ziel einer Serie von Terroranschlägen geworden.
Innerhalb weniger Stunden stürzt Brüssel erst in Panik, dann in Schockstarre. Augenzeugen am Flughafen berichten von Kolonnen angespannter, schockierter Menschen auf dem Weg aus der eilig eingerichteten Sperrzone heraus, noch ganz unter dem Eindruck des Todes und der Zerstörung in dem riesigen modernen Flughafengebäude mit lauter zersplitterten Glasscheiben und heruntergekrachter Deckenverkleidung. Sie erzählen von zerfetzten Körpern, von Blut überall.
In Maelbeek liegen die Verletzten auf dem Bürgersteig der abgesperrten Hauptverkehrsader Rue de la Loi (Straße des Gesetzes). Feuerwehrleute, Ersthelfer und Zivilschützer kümmern sich um sie. Augenzeugen auf der Straße berichten, dass aus dem U-Bahnhof noch Schreie zu hören sind: Fahrgäste, die noch im U-Bahn-Tunnel feststecken.
Es dauert nicht lange, und Belgiens Hauptstadt, Sitz der Europäischen Union, ist komplett lahmgelegt. Der Flughafen macht dicht, für den Rest des Tages sind sämtliche Flüge gestrichen. Ab 9.30 Uhr steht der öffentliche Nahverkehr – Busse, Straßenbahnen, U-Bahn – still. Eine halbe Stunde später schließen die ersten Supermärkte, Einkaufszentren und Banken.
An den Bahnhöfen läuft gar nichts mehr, zentrale Straßen werden gesperrt, in ganz Belgien kommt der Verkehr durcheinander. Die Regierung ruft die Menschen in Brüssel auf, sich möglichst nirgendwo hin zu bewegen. In anderen Städten wie Charleroi wird ebenfalls die U-Bahn stillgelegt, mittags sind sogar Belgiens Atomkraftwerke dran.
Die Nerven und die Geduld der Menschen sind auf eine harte Probe gestellt, denn auch das Mobilfunknetz funktioniert für einen Großteil des Vormittags nicht. Die Menschen sitzen fest und wissen nichts. Sie können sich nicht darüber informieren, ob ihre Nächsten in Sicherheit sind. Als das Netz wieder funktioniert, klingeln überall alle Handys auf einmal. „Was wir befürchteten, ist eingetreten“, sagt Premierminister Charles Michel auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Innenminister Jan Jambon und dem königlichen Generalstaatsanwalt Frédéric Van Leeuw. Sichtlich bewegt verurteilt der Regierungschef die „blinden, gewalttätigen, feigen“ Anschläge und kündigt erste Maßnahmen an: 225 mehr Soldaten auf den Straßen, verstärkte Grenzkontrollen, Einstellung des öffentlichen Nahverkehrs in ganz Brüssel, Schließung der Schulen.
In Brüssel herrscht Verunsicherung: Vor dem Königspalast wird ein verdächtiges Paket gesprengt, vor einem Krankenhaus auch. Es heißt, möglicherweise seien weitere Attentäter unterwegs. Zeitungen verbreiten Übersichten über offenbar von Dschihadisten gestreute Falschmeldungen. Ein Video macht die Runde, zeigt aber in Wirklichkeit den U-Bahn-Anschlag in Minsk im Jahr 2011.
Am Nachmittag öffnen die ersten Bahnhöfe und Stadtautobahntunnel wieder, die ersten Menschen beginnen, sich auf zentralen Plätzen zu sammeln, wo in Regenbogenfarben in verschiedenen Sprachen Durchhalteparolen mit Kreide auf das Pflaster gemalt werden. Die Regierung dekretiert drei Tage Staatstrauer.
Auf die Frage auf der Pressekonferenz, ob die Anschläge etwas mit der Verhaftung des Verdächtigen Nummer eins der Pariser Anschläge vom 13. November 2015, Asalah Abdeslam, im Stadtteil Molenbeek am vergangenen Freitag zu tun haben, antwortet Charles Michel: „Wir haben keine Informationen.“ Aber die Brüsseler Medien betonen, dass zwei Komplizen des in Brügge unter Hochsicherheitsbedingungen inhaftierten Abdeslam noch immer auf freiem Fuß sind: Najam Lachraoui und Mohamed Abrini.
Am Sonntag hatte Belgiens Außenminister Didier Reynders gewarnt, Abdeslams Komplizen seien im Begriff, Anschläge vorzubereiten. Darauf deute das Auffinden schwerer Waffen in einem ihrer Verstecke vor einer Woche im Stadtteil Foret hin.
Zunächst aber dominiert in Brüssel das Leid der Hinterbliebenen – und die Erleichterung der Überlebenden. Und eine gewisse Resignation. Der türkische Buchladen Gül im Stadtteil Schaerbeek, wo die Polizei am Nachmittag nach weiteren flüchtigen Terroristen sucht, hat weiter geöffnet, anders als der Carrefour-Supermarkt nebenan. „Inschallah (So Gott will) wird hier nichts passieren“, sagt ein marokkanischer Kunde. „Inschallah“, antwortet die Buchhändlerin, fatalistisch.
Beim arabischen Bäcker gegenüber herrscht Empörung, als im Fernsehen die Bilder laufen, wie am Flughafen Charleroi die Mülleimer versiegelt werden, damit man keine Bombe hineinlegen kann. „Man muss sowas doch machen, bevor die Bomben hochgehen!“, wundert sich der Bäcker.
Wenn die ersten Emotionen verflogen sind, dürfte es viele Fragen in Belgien geben, wie diese Anschläge möglich waren, obwohl die zweithöchste Terrorwarnstufe galt. Innenminister Jambon, der großspurig versprochen hatte, Molenbeek von Dschihadisten zu „säubern“, dürfte im Zentrum der Kritik stehen.
(Mit AFP, BBC, Le Soir, La Libre Belgique)
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