Eröffnung der Frankfurter Buchmesse: Lesen und lesen lassen
Der deutsche Buchmarkt schrumpft. Literarische Lesungen boomen dagegen. Ersetzt das Event die intime Zweierbeziehung?
Der zweite Satz in Sven Regeners neuem Roman, „Wiener Straße“, ist erstaunlich – und er führt, selbst wenn es in ihm eigentlich um ganz andere Dinge geht, mitten hinein in die Gegenwart der deutschen Literaturbranche.
Ganz harmlos fängt der Satz an: „Erwin stellte den Werkzeugkasten ab …“ Und dann geht er weiter und weiter, im Grunde auch harmlos. Figuren werden eingeführt: Frank Lehmann, Karl Schmidt, die man bereits aus Sven Regeners Herr-Lehmann-Kosmos kennt. Die Situation wird umrissen. Eine Wohnung in Kreuzberg soll renoviert werden, beim Baumarkt muss noch was besorgt werden. Lustige Wendungen wie „punkfreakverblödete Dusseligkeit“ fallen.
Die Literaturbranche kommt gar nicht vor. Erstaunlich ist der Satz aber keineswegs so sehr vom Inhalt her. Erstaunlich ist vielmehr seine Form. Er hört nämlich gar nicht mehr auf. Am Ende der ersten Seite merkt man das beim Lesen: Der Satz ist aber lang! Man blättert die Seite um: Der Satz wird ja immer länger! Spätestens am Ende der zweiten Seite – der Satz ist immer noch nicht zu Ende – ist klar: Ganz nebenbei führt uns der Autor hier auch vor, dass es bei ihm um Sprache als Material geht, um Rhythmus und Klang, um die Gebautheit der Wörter auf dem Papier, kurz: um Literatur.
Dritte Seite. Der Satz geht immer noch weiter, längst ein Kunstwerk für sich. Und wenn man schließlich ganz unten auf dieser dritten Seite des Romans beim Punkt dieses Satzes angekommen ist, denkt man: Den Satz möchte ich doch einmal vorgelesen bekommen, wollen doch mal sehen, ob der Autor überhaupt genug Atem für ihn hat. Dieser Satz will vorgelesen werden. Und genau damit passt er gut in die Gegenwart der Literaturbranche hinein.
Autoren füllen mit Lesungen große Hallen
Der geschriebene Text, die vorgelesene Sprache und der Atem des Autors: Damit sind wir bei einem Thema, das die Literaturszene im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse sehr beschäftigt. Denn einerseits ist es so, dass die Autorenlesungen und die Literaturfestivals boomen. Ein Autor wie Marc-Uwe Kling füllt inzwischen das Berliner Tempodrom, wo sonst Bob Dylan auftritt, mit einer Lesung seines aktuellen Buchs, „Qualityland“.
Okay, Kling, eh eher Entertainer. Aber auch ernsthafte Literatur kann große Hallen füllen. Die Deutschlandpremiere von Zadie Smiths Roman „Swing Time“ fand soeben im großen Sendesaal des RBB in Berlin statt, tausend Menschen passen hinein, es war voll. Neben der Lit.Cologne gibt es nun auch eine Lit.Ruhr. Es gibt das Literaturfestival in Berlin, das Harbour-Front-Festival in Hamburg, das Poetenfest in Erlangen, man kann sie gar nicht alle aufzählen. Das sieht alles nach goldenen Zeiten aus, nach einem breiten und regen Interesse für die Literatur.
Nur sprechen andererseits die Buchverkäufe eine andere Sprache. Es kursieren Zahlen, nach denen 2016 mit gedruckten Büchern 13 Prozent weniger Umsatz gemacht wurde als vor fünf Jahren. Und was für die Schriftsteller fast noch dramatischer ist: Die mittleren Auflagen dezidiert literarischer Titel schrumpfen. Eine Handvoll Titel verkauft sich bestens, doch gleich dahinter reißt es ab. Als Autor in Deutschland kann man von den Verkaufszahlen her entweder das ganz große Los ziehen oder gleich eine Niete.
Zudem gab der Börsenverein des Deutschen Buchhandels soeben eine Statistik heraus, nach der die Anzahl der Buchhandlungen deutschlandweit abnimmt. So waren 2005 noch 4.422 Buchhandlungen Mitglied beim Börsenverein und 2016 nur noch 2.964. Hauptgrund dieses Mitgliederschwunds, so der Börsenverein lapidar: „Aufgabe der Geschäftstätigkeit“.
Die Situation ist schon ein bisschen schizophren. Offenbar wollen viele Menschen Autorinnen und Autoren sehen, sie wollen ihnen zuhören und sie einmal live erleben. Nur selbst lesen wollen sie möglicherweise nicht mehr so. Kann es sein, dass sich da etwas auseinander entwickelt? Die Frage liegt nahe, ob die Situation in der Literaturszene sich der in der Musikbranche angleicht, in der die Alben der jeweiligen Band längst kaum mehr sind als der Anlass für die nächste Konzerttournee, auf der dann das Geld verdient wird. Kurz, schreibt man Bücher bald nur noch, um sie auf Festivals präsentieren und in Literaturhäusern vorstellen zu können?
Erträgt niemand mehr die Einsamkeit der Lektüre?
Die Literaturkritikerin Sandra Kegel hat kürzlich in der FAZ eins und eins zusammengezählt und sich und ihre Leser gefragt, ob es am Ende nicht so ist, „dass niemand mehr die Einsamkeit der Lektüre erträgt“ und das Publikum lieber „spaßige Veranstaltungen in Literaturhäusern oder bei Lesefesten“ besucht. Da war was los in der Branche! Gegenartikel erschienen. In den sozialen Medien fühlten sich Angestellte von Literaturhäusern in die Show- und Eventecke gestellt.
Und es mag ja auch sein, dass Sandra Kegel die Sache etwas zu pointiert zugespitzt hat. Aber man wird den Verdacht nicht los: Irgendwo hat sie dabei einen Punkt getroffen.
Wenn man sich mit solchen Fragen ans Telefon setzt, verwahren sich erst einmal alle Gesprächspartner gegen die Rubrik „Spaßige Veranstaltungen“, ist ja klar. Florian Höllerer ist der Chef des Literarischen Colloquium in Berlin, er hat bereits Seminare zur Geschichte der Lesungen in Deutschland gegeben. Von ihm kann man erfahren, dass es schon im frühen 19. Jahrhundert ausgedehnte Lesetouren gab – und seitdem Wellenbewegungen bei der Beantwortung der Frage, ob es legitim oder unfein ist, den Autor eines Buchs leibhaftig sehen zu wollen. Es gab Phasen, in denen nichts vom geschriebenen Text ablenken durfte. In so einer Phase befinden wir uns nun aber keineswegs. „Derzeit“, so Höllerer, „wollen alle den Autor sehen.“
Aber der Punkt ist ja auch, sagt Florian Höllerer dann noch, dass Lesung nicht gleich Lesung ist. Er macht feine Unterscheidungen zwischen seriellen Showformaten, in denen Autor und Moderator ihre Fragen und Antworten durcharrangiert haben, möglicherweise noch eine berühmte Schauspielerin den Text liest und alle zusammen damit auf Tour durch die Literaturhäuser und Festivals geschickt werden, und unikalen Veranstaltungen, in denen es einem Autor gelingt, sich zu öffnen und dem Publikum Einblicke in das glühende Herz seines Schreibens zu geben; die leicht kitschige Wendung „glühendes Herz“ stammt nicht von Höllerer, sondern von mir, aber im Grunde meint auch Höllerer genau das.
In vielfältigen Variationen kann man sich solche Gedanken bei vielen Telefonpartnern abholen, verbunden mit der Ansicht, dass Lesungen und Festivals selbstverständlich auch der Literatur und der Autorin nützen – nur dass das eben keineswegs eins zu eins funktioniert.
Kein Event, sondern die feine Unterhaltung über Literatur
Marion Bösker vom Literaturhaus München betont, dass die Lesung „kein Ersatz ist für die intime Zweisamkeit mit meinem Buch“, und erwähnt den Empfehlungscharakter der Literaturveranstaltungen. Über Bücher, die zu lesen sich lohnen, informiere man sich nicht mehr so stark wie früher im klassischen Feuilleton, sondern eben auch über die Programme der Literaturhäuser. Übrigens hat die Kritikerin Sandra Kegel am selben Abend, als ihr Artikel erschienen, eine Veranstaltung im Münchner Literaturhaus gehabt; es war, so Marion Börker, kein „spaßiges“ Event, sondern eine schöne, genaue, feine Unterhaltung über Literatur.
Thomas Böhm, der viele Lesungen moderiert, betont, dass gerade für ausländische Autoren eine Lesereise fast zwingend notwendig ist, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Da ist etwas dran. Tatsächlich werden einem als Literaturredakteur Buchbesprechungen inzwischen oft nicht mehr zum Erscheinen des Buchs, sondern zum Zeitpunkt der ersten Lesung am Wohnort des freien Kritikers angeboten.
Ulrika Rinke, Programmchefin beim Literaturhaus in Rostock, erweitert diesen Gesichtspunkt auch auf deutschsprachigen Autorinnen. „Die Literaturvermittler“, sagt sie, „stellen das Buch und seine Urheber immer wieder in den Mittelpunkt und beanspruchen Aufmerksamkeit für sie.“
Helge Malchow, Verleger des Verlags Kiepenheuer & Witsch, sagt, „die Präsenz des Mediums Buch durch solche Veranstaltungen ist unersetzbar“. Durch Lesungen und Festivals werde Literatur überhaupt noch als legitimer Bestandteil von Kultur wahrgenommen. Malchow bringt den Boom von Lesungen auch nicht mit der Auflagenkrise der Bücher zusammen, sondern eher mit der Krise der Buchhandlungen. Leser, so Malchow, haben immer Kontakt zu anderen Lesern und Kommunikation gesucht. Die bekommen sie inzwischen aber oft nicht mehr in den kleinen, kulturell ambitionierten Buchhandlungen geboten, deren Zahl zurückgeht. Insofern antwortet der Boom von Leseveranstaltungen eher darauf, dass das Bedürfnis, Teil einer Lesegemeinschaft zu sein, vom Buchhandel nicht mehr befriedigt werden kann.
Es ist interessant, was mit einem passiert, wenn man so herumtelefoniert. Man hört zu, schreibt mit, es ist ja alles auch differenziert und reflektiert. Allmählich aber entwickelt man bei diesen Telefonaten ein Gehör für etwas anderes: für die fröhlichen, manchmal geradezu zwitschernden Untertöne, wenn die Gesprächspartner von glückenden Leseveranstaltungen berichten. Neben allen Rationalisierungen kommt da auch ein Glutkern zum Tragen, eben ein glühendes Herz.
Die Lesung als eine Kulturform
Auf die Frage, was für sie eine geglückte Lesung ist, suchen alle Gesprächspartner erst einmal nach Worten, und man merkt, dass in ihnen Erinnerungen an gute Gespräche arbeiten, die aber erst einmal schwer auf den Punkt zu bringen sind. Marion Bösker vom Literaturhaus München meint, der Erfolg einer Lesung messe sich auf gar keinen Fall an der Zuschauerzahl, eher daran, dass ein Funke überspringt. Überhaupt sind Lesungen für sie eher eine eigene Kulturform für sich als Buch-PR. Eine alte Kulturform, gerade in Deutschland mit seinen geselligen Literatursalons schon zur Goethe-Zeit. Aber in der Breite, wie sie jetzt stattfinden, doch auch eine junge Kulturform, bei der vieles ausprobiert werden muss.
Ulrika Rinke vom Literaturhaus Rostock sagt, „das Soziale bei Lesungen hat einen Eigenwert, zumindest ist das mein Eindruck im Rostocker Literaturhaus, das ich seit anderthalb Jahren leite: Das Publikum kommt nicht etwa, um sich durch den Besuch des Literaturhauses eines besonderen Status zu vergewissern, also der Zugehörigkeit zu einer exklusiven Schicht von Gebildeten. Ich erlebe ein genuin interessiertes Publikum, das um der Sache selbst willen da ist.“
Einen interessanten Hinweis gibt noch der Verleger Helge Malchow. Es ist für ihn ein Bedürfnis nach Unmittelbarkeit, das im Publikumsinteresse an Lesungen zum Ausdruck komme. Und er bringt es damit zusammen, dass das Medium Buch historisch die Antwort darauf war, dass das unmittelbare mündliche Erzählen am Lagerfeuer nicht mehr weit genug trug. Helge Malchow muss selbst ganz kurz lachen, als er das sagt – das moderne Buchbusiness ist vom Lagerfeuer dann doch weit weg –, allerdings hat dieser Punkt unbedingt auch einen harten Kern. Den Boom der Lesungen sollte man nicht nur unter dem Gesichtspunkt eines Rückgangs der gedruckten Textform betrachten, sondern auch als Neuinszenierung tradierter mündlicher Erzählform.
Damit spielt Helge Malchow auf eine berühmte These des Philosophen Walter Benjamin an, der in seinem Essay „Der Erzähler“ meinte: „Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben. Und unter denen, die Geschichten niedergeschrieben haben, sind es die Großen, deren Niederschrift sich am wenigsten von der Rede der vielen namenlosen Erzähler abhebt.“ Das würde besagen, dass gedruckte Literatur das mündliche Erzählen abgelöst hat – aber sich gleichzeitig immer noch aus diesen Quellen speist. Und in einer geglückten Lesung kommt dieses mündliche Erzählen wieder zur Geltung.
Auch Sven Regener liest – aber auch den langen Satz?
Wenn man fertig ist mit dem Telefonieren, erscheint einem der ganze Bereich der Literatur, wie er sich vor der diesjährigen Frankfurter Buchmesse präsentiert, tatsächlich seltsam doppelgesichtig. Einerseits erscheint er tatsächlich verletzlich und pflegebedürftig, wie die Buchverkäufe zeigen. Andererseits rührt er an mächtige Bedürfnisse, die sich, wenn nicht alles täuscht, im Boom der Lesungen ausdrücken. An diesem Anspruch werden sich Lesungen und Festivals aber auch messen lassen müssen. Kulinarische Veranstaltungen, in denen man etwa zum „Sektfrühstück mit frischen Literaturdebütantinnen“ eingeladen wird (alles schon gehabt), sind damit nicht gemeint.
Das ist eine gute Stelle, um auf den Satz von Sven Regener zurückzukommen. Ihm kann man selbstverständlich auch dabei zuhören und zusehen, wie er aus seinem neuem Roman liest. Am 14. Oktober tritt er in Köln auf, am 15. in Göttingen, am 7. November in Kiel, weitere 17 Lesetermine folgen. „Erwin stellte den Werkzeugkasten ab …“ Allein für den zweiten Satz von „Wiener Straße“ wird er geschätzt sechs bis acht Minuten brauchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen