Erneuter NPD-Aufmarsch im Rheinland: Stolberg will kein Nazinest werden
Nach dem Tod eines 19-Jährigen verbündet sich die rechtsextreme Szene im rheinländischen Stolberg. Am Samstag marschierten 450 Neonazis auf, darunter NPD-Chef Udo Voigt.
Ausgestorbene Straßen und Geschäfte, dafür an jeder Ecke Polizeihundertschaften aus ganz Nordrhein-Westfalen: Das rheinländische Stolberg bei Aachen glich am Samstag einer Geisterstadt. Die rechtsextreme NPD nutzte die rund 60.000 Einwohner zählende Stadt bereits zum dritten Mal als Bühne für einen Aufzug. Stolberg soll offenbar zu einem Wallfahrtsort für Neonazis werden.
Auslöser der Demonstration war der Tod des 19-jährigen Kevin P. Der im Nachbarort Eschweiler wohnende Jugendliche war am 4. April erstochen worden. Ein tatverdächtiger 19-Jähriger ausländischer Herkunft sitzt bereits seit dem 6. April in Untersuchungshaft. Einen politischen Hintergrund schließt die Polizei jedoch aus.
Auch wenn die Familie des Opfers jegliche rechtsextreme Gesinnung ihres Sohnes bestreitet, hatte die NPD umgehend versucht, den Migrationshintergrund des Tatverdächtigen für ihre Zwecke zu nutzen und Kevin P. zum Märtyrer zu machen. Auffällig ist dabei, wie eng die sonst konkurrierende Szene von NPD-Kreisen, Autonomen Nationalisten und der "Kameradschaft Aachener Land" zusammenrückt. Bereits einen Tag nach der Tat richtete die rechtsextreme Szene eine Mahnwache mit 170 Neonazis aus. Am 12. April marschierten 800 Anhänger von NPD und "Freie Kameradschaften" (FK) aus der Region auf. Zudem wurde via Internet verbreitet, das Opfer habe der rechten Szene angehört. Videos "zu Ehren des gefallenen Kameraden" wurden auf YouTube geschaltet.
In Stolberg soll nun ein "Trauermarsch" fest installiert werden. "Wir kommen wieder", betonten verschiedene Redner der Rechtsextremen, darunter auch der NPD-Bundesvorsitzende Udo Voigt, bei ihrem Aufzug am Samstag. Doch trotz bundesweiter Mobilisierung musste der NPD-Chef vor nur 450 Neonazis sprechen. Empfangen wurden die Rechtsextremen von rund 1.000 Gegendemonstranten eines breiten Bündnisses von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Jugendorganisationen. Entsprechend gesäumt waren die Straßen von Plakaten: "Wer Trauer missbraucht, missachtet Menschen", "Schöner leben ohne Nazis", "Stolberg hat keinen Platz für Rassismus", hieß es etwa. Zwar skandierten die Neonazis lautstark Parolen wie "Kulturfremde Ausländer raus", doch wurde insbesondere NPD-Chef Udo Voigt Zielscheibe des Protests von Anwohnern. Die stellten Lautsprecher in die Fenster und übertönten Teile der Propaganda des ehemaligen Bundeswehrhauptmanns mit Rockmusik.
Dennoch hätten sich manche noch mehr Protest gewünscht: "Wo ist der Bürgermeister Ferdi Gatzweiler", fragte etwa die Stolbergerin Elke Dickler. Und Gisela Stockem beklagte, viele ihrer Mitbürger hätten wohl schlicht Angst vor möglichen Gewalttaten der Neonazis gehabt und seien deshalb zu Hause geblieben. Sie kritisierte vor allem die Lokalpresse: Die habe die Gegendemonstration, zu der auch einige Autonome angereist waren, bereits im Vorfeld als "Protest von Linksextremen" diskreditiert. Allerdings sei eine weitere Gegendemo am Vorabend gut besucht und ein Gottesdienst in der Stadtkirche "brechend voll" gewesen.
Nach dem Abzug der Rechtsextremen zeigte sich deren Gewaltbereitschaft. Die Polizei nahm 31 Neonazis fest und stellte Messer, Zwillen und eine Axt sicher. In Zügen kam es dennoch zu Gewalt. Am Stolberger Bahnhof pöbelten Rechtsextreme zwei farbige Mädchen an. Allerdings bewies der Lokführer Zivilcourage: Er öffnete die Türen nicht und entschuldigte sich bei den wartenden Fahrgästen.
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