Ernährungswunderwelt Tankstelle: Nachts, halb eins in Deutschland
Benzin löscht keinen Durst. Wer aber zur Unzeit Hunger hat, muss zur Tankstelle gehen. Geschichten von flutschigen Würstchen, heißen Hexen, kränklichen Buletten und Analogkäse Hawaii.
Wahre Gastlichkeit in Deutschland hat einen Namen: Tankstelle. Sie ist eine der wenigen Institutionen – abgesehen von der Telefonseelsorge, der Polizei und McDonald's –, die rund um die Uhr geöffnet haben. Und ja, Deutschlands Tankstellen riechen nicht nach verfliegendem Benzol oder fettigem Diesel, sondern nach Bockwurst und frisch gebrühtem Kaffee.
Während in dunklen deutschen Nächten anderswo längst alle Speisen "aus" sind und nirgendwo mehr jemand bereit wäre, sich für einen Hungrigen den Morgenmantel überzuwerfen, um in der Küche ein Brot zu schmieren, sieden in den Tankstellen "Dampfbratwürste" in Glasröhren. In den Theken und Auslagen steht Backwerk bereit, darunter stets die prominenteste Ausgeburt deutsch-französischer Missverständnisse: das Käse-Schinken-Croissant.
Im Gastraum Tankstelle wird anders gesprochen als im Imbiss oder im Restaurant. Man sagt Sätze wie "Die fünf und ein Fitness-Baguette" und bekommt zur Antwort:"Haben Sie eine Payback-Karte?". Auch sonst sind der Fantasie hier keine Grenzen gesetzt. Immer wieder finden sich kulinarische Knaller wie die "Laugenstange Hawaii", ein platt gedrückter Laugenstangenrohling überbacken mit Pressschinken, Analogkäse und einer Scheibe Dosenananas.
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Für das leibliche Wohl ist gesorgt, und wer mal austreten muss, bekommt einen Schlüssel, an dem eine leere Ölflasche hängt. Wem aber nach dem Mahl eher nach Gesellschaft ist, geht entweder zur Bar am Industrie-Staubsauger oder in die Raucher-Lounge an der Luftdruck-Station. Hier trifft man in ländlichen Regionen wahlweise die lokale Jeunesse dorée oder Alkoholiker älterer Jahrgänge, ist aber auf jeden Fall mitten im Leben.
Die hiesige Tankstellen-Gastronomie, ein Zwitter aus deutscher Raststättenkultur und Ladenschlussgesetz, ist eine mal Aral-blau, mal Shell-gelb leuchtende Boje der Nationalkultur. Und theoretisch wie alles andere auch vom Aussterben bedroht: Was passiert eigentlich mit den Tankstellen, wenn das Elektroauto kommt? Bis es soweit ist, blicken wir zurück auf Nächte voller Fleisch und Fett. MARTIN REICHERT
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Die letzte Bulette
Manche Dinge bereut man bereits, bevor man sie in die Tat umgesetzt hat. Die falsche Frau küssen. Nach München ziehen. Mitten in der Nacht auf der Tankstelle eine Bulette vom Vortag essen.
Eigentlich wollte ich eine Bockwurst haben – der Mann hinter der Theke riet mir davon ab. Er hatte den Würstchenwärmer vom Strom genommen; das Kondenswasser sammelte sich an der Innenseite des Glaszylinders. Die restliche Auswahl umfasste die Bulette und ein altes paniertes Schnitzel – ich entschied mich für die Berliner Variante. Dazu ein Bier aus dem Kühlregal und eine pappige Schrippe: Ein Tankstellenmenü für 3,25 Euro, zu zahlen im Voraus.
Der Thekenmann fragte, ob er die Bulette aufwärmen solle. Bitte! Ich bin ein vorsichtiger Mensch, und Hitze tötet Keime. Auf das Bier musste ich vorerst verzichten. Mangels Schankerlaubnis sei der Verzehr alkoholischer Getränke in der Tankstelle nicht gestattet. Wieder was gelernt: Deshalb stehen die Trinker auf den zugigen Parkplätzen, anstatt sich im warmen Kassenraum zu besaufen.
Dreißig Sekunden und das "Ping!" der Mikrowelle später schob der Mann die fettig glänzende Bulette über den Tresen. Er hatte sie liebevoll auf einen Porzellanteller drapiert und nicht mit Senf gespart. Immerhin, das Auge isst ja bekanntlich mit. Die Bulette selbst machte optisch leider nicht viel her. Die braune Kruste pappig, das Hackfleisch darunter blass, fast kränklich. Beim Anschneiden stieg mir ein Aasgeruch in die Nase. Zum Glück schmeckte die Bulette dann schlicht nach nichts. Der Senf hingegen war köstlich.
Ich aß die Bulette, stippte den Senf mit dem Schrippenrest auf. Ließ mir das Bier öffnen. Trank einen großen Schluck und machte mich auf den Heimweg. Unterwegs summte ich den Chanson von Édith Piaf: "Non, je ne regrette rien". Nein, ich bereue nichts. TIMO KATHER
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Die verlorene Hexe
Er sieht mich an, als hätte ich nach hundert Gramm frischem Hackfleisch gefragt. Heiße Hexe? Jibts nich, sagt der Tankwart. Ham wa nich bei Esso.
Bei Shell, einen Kilometer weiter, sieht mich der Tankwart überhaupt nicht an. Er nickt bloß Richtung Tiefkühltruhe. Dort sieht es traurig aus. In der einen Ecke zwei Pizzen, in der anderen nichts. Hm. Und jetzt? Wo ist sie hin, die Heiße Hexe, die gabs doch früher an jeder Tanke!
Zweiter Versuch bei Shell, diesmal telefonisch: "Diese Burger für die Mikrowelle, in einer Minute verzehrbereit. Die mit dem wilden Schriftzug auf der Verpackung!" Mit der heißen Hexe, die auf einer Gabel von links nach rechts flitzt. Shells Pressefrau ist wenig erfreut über mein Anliegen, beinah pikiert. Sagt: "Ich kümmere mich darum". Sie kümmert sich nicht darum.
Anruf bei Aral. Der Pressemann lacht und legt auf.
Anruf bei Langnese. Warteschleife. Hallo? Warteschleife. Dann, ein Lichtblick, ein Mann, der weiß, dass die Heiße Hexe zwischenzeitlich nicht von Langnese, sondern von Dr. Oetker vertrieben wurde und "Bistro" hieß, mittlerweile wieder von Langnese vertrieben wird, auch wieder Heiße Hexe heißt, aber nicht mehr an Tankstellen verkauft wird. Und dann, juhu, danke, danke, eine Frau, die mir sagt, dass man die Burger, auch die Hot Dogs und die Pommes, noch an einem Kiosk in Berlin kaufen kann. Beim Minigolf-Stand in Neukölln. Ich will sie umarmen.
Abends riecht es in meiner Wohnung nach Fett. Altem Fett. Hält man die obere Brötchenhälfte mit zwei Fingern in die Luft, hält man den ganzen Chickenburger in die Luft. Schneidet man ihn in der Mitte durch, kommen grün-braune Stücke zum Vorschein, die sowohl als Gurken- als auch als Zwiebelreste gedeutet werden können. Kürzen wir es ab: Mit jenem Burger ist es wie mit einem schlechten One-Night-Stand. Davor war er noch eine gute Idee. ANNABELLE SEUBERT
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Die gefangene Wurst
Der Hunger treibts rein, nach Mitternacht besonders. Aber erst muss die Wurst aus der Hülle. In irgendeiner Fabrik haben sie - in einem maschinellen Prozess, aber sicher mit ganz viel Liebe - die Bifi in einen Schlauch aus Folie gesteckt. Sanft glitt sie hinein - oder wurde sie brutal gestopft? -, aber wie kommt sie raus?
Drückt man zu stark, flutscht sie weg, landet unter dem Regal mit dem Motorenöl oder, draußen, auf dem betonsteinernen Pflaster vor der Tanke. Vielleicht gehört sie da hin, aber: Sie soll Hunger stillen, die anderen Sachen waren doch noch ekliger. 157 Gramm Schweine- und Rindfleisch, von Bauern, mit denen der Riesenkonzern Unilever schon lange zusammenarbeitet. Schon sehr, sehr lange. Wahrscheinlich begrüßen die Unilever-Metzger die Bifi-Bauern mit Handschlag, bevor sie in den Stall gehen und die Tiere auswählen, die Wurst werden. Oder?
Und ich so: drück. Und die Wurst so: rutsch.
Schüchtern wie eine Schnecke, die aus ihrem Haus kommt, um nach dem Rechten zu sehen. Ein sanftes Schmauchen ist zu hören. Lebt die etwa noch?
Jetzt langsaaam, ganz saaaachte, und aufpassen, dass der glitschige, zartrot gefärbte Wurm sich nicht doch noch davonmacht. Die Bifi riecht. Nicht gut. Wie Wurst aus Folie. Das meinen Vegetarier, wenn sie "Iiih, totes Tier" sagen. Aber was will man machen? Gibt ja gerade nichts anderes, Buletten sind aus. Heiße Hexe? Vergiss es.
Und als Nachtisch: Eis. Ich bleibe bei der Schlauchnahrung - wenn schon weit weg von zu Hause, dann auch essensmäßig mal ganz was anderes -, greife in der Kühlung zum Wassereis im Plastikbeutel. Wie früher. Kleine Münze, großer Genuss. Na ja. Sehr bunt, sehr süß, sehr glibberig nach einer Zeit. Und wenn man daran saugt, bleibt ein Tümpel trüben Wassers zurück. Aus welchem Hahn stammt es? Ich will es nicht wissen. Nächstes Mal: Reisebrote. FELIX ZIMMERMANN
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