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Archiv-Artikel

Erledigt, aber noch da

Es gibt keine schlechte Sprache, es gibt nur Sprache, die schlecht benutzt wird: Mit seinem Glasgow-von-unten-Roman „Spät war es, so spät“ beeinflusste James Kelman eine ganze Generation von jungen schottischen Autoren, unter ihnen Irvine Welsh. Nun liegt der Roman in deutscher Übersetzung vor

Kelmans Figuren fluchen, schimpfen und benutzen eine derbe Sprache

VON RENÉ ZIPPERLEN

Die Times war außer sich: Als vor zehn Jahren der damals 48-jährige schottische Schriftsteller James Kelman den Booker Prize, den wichtigsten Literaturpreis Großbritanniens, zugesprochen bekam, schrieb sie einen Skandal herbei. Der Chefredakteur sprach von „literarischem Vandalismus“ und „Irrsinn“. Mit Folgen: Eine Gruppe Abgeordneter verlangte, den Roman aus dem Buchhandel zu verbannen. Dabei ist „Spät war es, so spät“, verglichen mit dem Vorabendprogramm, eher prüde, enthält keinen Sex, keine explizite Gewalt, keine Drogen. Die Times hatte fleißig gezählt: Über 4.000-mal habe Kelman in seinem Roman das Wörtchen fuck benutzt. Ganz ohne Sternchen. Genug, einem Werk den literarischen Rang abzusprechen.

Dabei ist das nun endlich auf Deutsch vorliegende „Spät war es, so spät“ nichts weniger als ein literarischer Glücksfall. Und ein Buch, mit dem der Autor, einer der führenden zeitgenössischen Schriftsteller Schottlands, in seiner Heimat eine ganze Autorengeneration erst möglich gemacht hat – nicht zuletzt Irvine Welsh. In einer Art vielstimmigem innerem Monolog, gänzlich in der Sprache der Glasgower Unterschicht verfasst, schickt Kelman in seinem Roman den Kleinkriminellen Sammy in ein neues Leben: Nach einem durchzechten Wochenende wacht Sammy in fremden Schuhen auf – und mit einem kompletten Filmriss. Er landet kurz in Polizeiarrest, wird verprügelt, entlassen – und ist blind.

Während der sechs Tage, die der Roman erzählt, kämpft Sammy verzweifelt mit seiner veränderten Lebenssituation: Der ehemalige Draufgänger ist ratlos, schwach, verletzlich und auf seine Umwelt angewiesen wie noch nie. Die will ihm nichts Gutes: Der Amtsarzt glaubt nicht an seine Blindheit, das Sozialamt verweigert deswegen Unterstützung, seine Freundin ist verschwunden, in der Wohnung steckt offenbar Diebesgut, und schließlich glaubt die Polizei, er habe Kontakt zum Untergrund. Ganz schlechte Karten für einen Mittellosen. Die Art und Weise, wie er dabei ohne Hoffnung immer weiterrackert, macht ihn zu einem existenzialistischen Helden am Rand der Gosse, der um nichts weniger kämpft als um seine Würde in einer ungerechten und von Willkür bestimmten Welt.

So folgt der Leser diesem Raubein durch die lärmenden Straßen Glasgows, das einmal die schlimmsten Slums Europas beherbergte, durch die undurchschaubare Welt der Amtsstuben, Zuständigkeiten und Gemeinheiten, durch bierdunstige Pubs. Dabei dringt er immer tiefer ein in diesen Menschen, der einsam seine Kreise zieht, sich zwar erschüttern, aber zu seiner eigenen Überraschung nicht unterkriegen lässt. „Du denkst, du bist erledigt, aber du bist noch da.“

Wie schon in Kelmans anderen Romanen und seinen Kurzgeschichten ist das Entscheidende oft, was nicht ausgesprochen wird, sind Sprache und Umgebung einer aus der Literatur meist ausgeblendeten Schicht von Verlierern der Dienstleistungsgesellschaft. Deren Probleme sind oft klein, etwa wenn einer das Geld auf der Hunderennbahn verspielt, der seiner Familie ein Sonntagsfrühstück kaufen sollte. Die daraus entspringenden Krisen aber – darauf legt es Kelman an – sind von existenzieller Bedrohlichkeit im grellen Licht eines scharfen Blicks.

Denn ihre Lage kennt keine Aussicht auf Besserung. Ihre Antwort darauf ist ein tief in der Glasgower Seele verwurzeltes Dennoch: „So ist das Leben nun mal, Mann, ich mein das scheiß Leben, mehr kann man nicht machen als wieder anfangen, Mann, ein Neubeginn, noch mal, du ackerst einfach weiter, immer scheiß weiter, so macht man das.“

Sie fluchen, schimpfen und benutzen eine derbe Sprache, die ihrem Autor den Vorwurf eingebracht hat, obszöne Literatur zu schreiben. Dazu hat der den akademischen und Literaturbetrieb scheuende Kelman selbst ein- mal ein Machtwort gesprochen: Was man in Großbritannien „schlechte Sprache“ nenne, „gibt es nicht. Es gibt nur Sprache, die schlecht benutzt wird.“ Das lässt sich kaum besser sagen. Kelmans vierter und bis dato bester Roman lebt fast vollkommen von der Virtuosität, mit der er die „deformierte“ Sprache benutzt, das Sag- und Unsagbare aus ihr herauskitzelt, mehr aber noch vom Rhythmus der Wortkaskaden, ihren Wirrungen, Brechungen, Sackgassen und dem düsteren, kargen Humor des Glaswegian. Silvia Morawetz vermeidet in ihrer Übersetzung den Fehler, das Glasgower Schottisch in – sagen wir – Berliner Schnauze zu übertragen. Ihre schnoddrige großstädtische Umgangssprache wird der Vorlage einigermaßen gerecht. Letztlich fehlen ihr zur originalen Partitur die vielleicht entscheidenden paar Ober- und Unterstimmen, die diesen „brillanten Song von einem Buch“ (Independent) über Schwachstellen hinwegretten und auch in der Übersetzung zu großer Literatur machen könnten.

James Kelman: „Spät war es, so spät“. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Liebeskind, München 2004, 420 Seiten, 24 €