Erinnerungen eines syrischen Flüchtlings: Ein Traum von Aleppo
Aleppo, die Schöne, liegt jetzt in Trümmern. Weite Teile der Stadt wurden zerstört, Menschen sterben qualvoll. Unser Autor erinnert sich.
Festtage sind in Aleppo eine besondere Zeit des Glücks, eine Zeit, die von der Monotonie des Alltags abweicht. Bevor ich auf der Flucht vor einem mörderischen Regime und den Bomben des Bürgerkriegs nach Berlin kam, bedeuteten mir die Feiertage nicht viel, aber ich ergötzte mich an der Freude der anderen. Es war mir wichtig, dass meine Kinder und deren Kinder die Feiertage und die Tage der Vorbereitung darauf in Vorfreude verbrachten, und tat alles, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen.
Doch der Krieg brachte uns auseinander. Ich bin jetzt in Berlin, und meine beiden Söhne leben in anderen Städten außerhalb Syriens. Meine Tochter hingegen ist mit ihrer Familie in Aleppo geblieben, um sich um ihre alten Schwiegereltern zu kümmern. Während der letzten Festtage verbrachte ich die meiste Zeit am Telefon, denn der Krieg und das Leben in Trennung, weit fort von zu Hause, haben mir nur noch die Möglichkeit gelassen, meinen Lieben alles Gute zu wünschen und vielleicht selbst Glückwünsche entgegenzunehmen. Aber was sollen das schon für Festtage sein angesichts der Detonationen und des Mordens? Ich sprach flüchtig meine Wünsche aus und erkundigte mich während des restlichen Gesprächs nach ihrem Befinden.
Dann kehrte ich zurück in meine Welt, mein Zimmer in einem ruhigen Viertel von Berlin. Mir ist nur die Erinnerung geblieben, die ich in meiner Einsamkeit wiederkäue. Doch die Freude wird zu Schmerz, und die Gebäude der Stadt werden gnadenlos zerstört.
Ich löschte das Licht und setzte mich auf meinen Stuhl, während die alten Aleppiner Lieder wie in einem Traum durch mein Zimmer hallten.
Um das Gebäck für die Feiertage zu backen, brauchten wir Tabletts, die wir jedes Mal vom Bäcker ausliehen. Und es waren die Kinder, die die Tabletts leer vom Bäcker nach Hause trugen und voll wieder zurück. Die Zubereitung des Gebäcks zu Hause, das Backen beim Bäcker, das Zurückbringen der fertigen Plätzchen, all dies war schon ein Fest für sich, voller sehnsuchtsvollem Warten und herrlichem Chaos.
Ich liebte es, mich auf die hohe Steinbank zu setzen und die ins Teigkneten vertieften Frauen zu beobachten. Meist riss meine Tante Suad ein Stück Teig an sich, rollte es auf einem Holzbrett zu einer Schlange und machte einen Kreis daraus. Und wenn sie dann mit dem Finger dort, wo die beiden Enden der Schlange sich berührten, auf den Teig drückte, war das Plätzchen fertig. Meine Großmutter war eine Spezialistin für Plätzchen, die mit Dattelpaste gefüllt waren. Dafür drückte sie den mit der Paste angefüllten Teig in die Form und schlug diese in einer faszinierenden Bewegung so gegen die Tischkante, dass ihr das Plätzchen in die Hand fiel.
Wir lebten in einem allein stehenden Haus im Aqyul-Viertel, aber wir verbrachten die Feiertage – und überhaupt die meiste Zeit – bei meinem Großvater, als wäre es unser Zuhause.
Vor dem Fest wurden die Kinder gewaschen. Die Frauen halfen sich gegenseitig, erhitzten das Wasser und reichten es einander zum Waschen an. Die gewaschenen Kinder schrien und hatten die Farbe von gekochter Roter Beete angenommen. Die Badeparty dauerte den ganzen Tag und ermüdete die Frauen, aber sie war notwendig, denn ohne Bad würden sich die Schränke mit den neuen Kleidern und den glänzenden Schuhen nicht öffnen.
Wer hat Angst vor Mecklenburg-Vorpommern? Bei der Landtagswahl will die AfD stärkste Kraft werden. Rückt das Land weiter nach rechts? Eine Sonderausgabe zu Stimmung, Sorgen und Sehnsucht im Nordosten lesen sie in der taz.am wochenende vom 27./28. August. Außerdem: Überforderte Rettungsdienste, Polizei im Dauereinsatz – unterwegs in Uganda auf dem gefährlichsten Highway der Welt. Und: Gottestdienst am Autoscooter, Seelsorge am Popcornstand. Ein Gespräch mit der Pfarrerin einer SchaustellerInnen-Gemeinde. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Ich liebte die Welt der Erwachsenen, verstand sie aber nicht. Wohin nur verschwanden sie am Morgen des Festtages, bevor sie uns, die Kinder, angetan mit den neuen Kleidern, in einer Reihe aufstellten, auf dass Großvater in Begleitung seiner Söhne und Schwiegersöhne an uns entlangschritt. Mit diesem Hochgefühl des Glücks meines Großvaters begann das Fest. Das Lachen der Erwachsenen und ihre Kommentare hallten in allen Ecken des Hauses wider. Dann – eins, zwei, drei – sangen wir eines der Lieder, die Tante Suad uns beigebracht hatte.
Was mag aus dem Haus meines Großvaters geworden sein, in dem sich diese Festvorbereitungen zugetragen haben?
Es liegt im Pascha-Viertel, das vom berühmten Bab-al-Hadid-Viertel abgeht. Dieses Viertel ist zum Kriegsschauplatz zwischen der Regierungsarmee und der Freien Syrischen Armee geworden. Es liegt im östlichen Teil der Stadt, die bis vor Kurzem belagert war. Die Stadtmauer umgibt die gesamte Altstadt, und der Platz dort ist nach einem der neun Stadttore benannt. Das Bab-al-Hadid-Tor mit seinem wunderbaren Turm steht noch, und ich hoffe, dass es der Zerstörung wie in allen anderen Kriegen entgeht.
An den Feiertagen wurde der Bab-al-Hadid-Platz in einen Festplatz verwandelt. Schaukeln und Riesenräder wurden aufgestellt und Zelte, in denen Künstler auftraten. Es gab auch einen Zauberer auf dem Platz, der uns imponierte. Er stand auf einer Holzkiste, in der er auch seine Requisiten aufbewahrte. Er beförderte Rasierklingen aus seinem Mund oder zog sich ein langes Seil aus miteinander verknoteten bunten Seidentüchern aus den Ohren. Wir schauten mit weit aufgerissenen Augen zu.
Klares Wasser und goldfarbene Fische
Die Dunkelheit und der Klang der Musik ließ mich auch in die Welt der Musik reisen, die verbunden ist mit der Person meines Großvaters. Als ich sechzehn Jahre alt war, war mein Großvater an der Reihe, die Sahniyya auszurichten. Das bedeutete, dass alle Gäste einen Teller voller Speisen aus eigener Herstellung mitbrachten. Wegen der großen Hitze an jenem Tag wurde die Versammlung im Innenhof des Hauses abgehalten, wo wir klares Wasser in den Brunnen eingelassen hatten, in dem wir goldfarbene Fische schwimmen ließen. Der Hof füllte sich mit den Freunden meines Großvaters, es waren Scheichs, Händler und Persönlichkeiten der Stadt, die alle die Musik liebten. In unserer Stadt bestand seit jeher eine innige Beziehung zwischen den Scheichs und der Musik.
Jene Scheichs kamen einer Musikschule gleich; kein Sänger würde in Aleppo bekannt werden, hätten ihn diese Scheichs nicht geprüft und seine Stimme für wohlklingend befunden. An jenem Abend fiel mir auf, dass viele der anwesenden Sänger eigentlich Muezzine waren, so etwa Sabri Mudallal und andere, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere.
Nihad Siris, 1950 in Aleppo geboren, ist Schriftsteller. Er lebt in Berlin im Exil.
Der Gesang und die Fröhlichkeit waren das Wichtigste, was die Sahniyya-Abende auszeichnete. Die Fröhlichkeit schloss auch die Liebe einiger Scheichs zu ihren Bäuchen ein, und hatten sie sich die Bäuche vollgeschlagen, wurden mehrere Runden starken Tees in vergoldeten Gläsern gereicht. Der Genuss des sorgfältig zubereiteten Tees übertraf für sie den Genuss eines guten Weins, weshalb man den Tee den „Wein der Religionsgelehrten“ nannte.
Von jenem Tag an begleitete ich meinen Großvater stets auf die monatlich stattfindenden abendlichen Zusammenkünfte der Rechtsgelehrten und Scheichs. Statt darauf zu warten, dass er mit der Sahniyya an der Reihe war, bestand ich darauf, dass er mich mitnahm. Ich bestach ihn, indem ich ihm mit meiner unmelodiösen Stimme einige Lieder vorsang, sodass er lachte, bis ihm die Tränen kamen. Ich brachte ihm Lieder von Sängern mit, die gerade in Mode waren und von denen er noch nie etwas gehört hatte, und das steigerte seine Heiterkeit noch mehr, weil er glaubte, ich hätte mir diese Lieder für ihn ausgedacht und die Namen der Sänger frei erfunden.
(Aus dem Arabischen von Larissa Bender)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken