Erinnerung an den Fotografen Paul Glaser: Aus der Mauerstadt
In Berlin interessierte ihn Kreuzberg, später war auch die untergehende DDR ein Thema seiner Alltagsbeobachtungen. Eine Erinnerung an Paul Glaser.
Paul Glaser war für uns junge Bildredakteurinnen in der taz immer der ältere Mann mit Schnauzbart, der uns ein paar Jahrzehnte voraus hatte und jede Menge über Berlin und seine Lokalpolitiker wusste. Er beobachtete die Politszene schon lange und fotografierte die Leute in der zweiten Reihe, bevor sie bekannt wurden. Er kramte in seinem enormen Personengedächtnis, ohne mit seinem Erfahrungsvorsprung zu prahlen.
2010 schätze er in einem Gespräch die Anzahl seiner Negative auf über eineinhalb Millionen Bilder. Der dokumentarische Wert seiner Alltagsbeobachtungen aus der Mauerstadt Berlin und der untergehenden DDR drumherum werden mit dem zeitlichen Abstand immer bedeutsamer. Was damals „normal“ erschien, weil wir es teils mit eigenen Augen sahen, kommt uns heute fremd und besonders vor.
Paul Glaser fotografiert die heruntergekommenen Häuser, Ruinen, Hinterhöfe. Die Altenpflegerinnen der Arbeiterwohlfahrt interessieren ihn. Von den Arbeiterinnen, die er 1982 bei einer AEG-Belegschaftsversammlung aufnimmt, weiß er, dass die meisten der ihn anlachenden Frauen aus Jugoslawien sind. Im Bild von einer Selbsterfahrungsgruppe lassen Menschen in lässiger Kleidung die Köpfe hängen.
Glaser hatte keine Berührungsängste mit der Alternativszene. Er zeigt eine Mädchenbande in Kreuzberg. Er fotografiert Willy Brandt 1980 bei einem Hinterhoffest. Dann eine rein türkische Klasse in Kreuzberg. Immer wieder zeigt er, dass Berlin auch eine Stadt der Einwanderer ist. Auf wohl 30.000 Fotos schätzt er seine Motive von türkischem Leben in Berlin: Moscheen, Familien, bei der Arbeit, beim Grillen, Demos, Hochzeiten.
Immer wieder zieht es ihn nach Kreuzberg, in einem Interview erklärt er warum: „Kreuzberg ist ein bisschen Symbol für mein Leben. Ich bin 1941 in Wolhynien, heute Ukraine, geboren worden. Meine Eltern waren deutsche Bauern. Meine Vorfahren haben dort mit anderen Kolonialisten seit über 100 Jahren gelebt. Bei den Türken in Kreuzberg habe ich mich gefühlt wie bei unserer deutschen Verwandtschaft in der Ukraine. In unserer Familie wurden auch große Feste gefeiert, für die alle Zimmer ausgeräumt worden sind, und alles endete mit einer Riesenschlägerei.“
![Ein Mann hockt vor auf Abriss stehenden Häusern in Berlin Ein Mann hockt vor auf Abriss stehenden Häusern in Berlin](https://taz.de/picture/5482075/14/29851802-2.jpeg)
Der Sohn eines deutschen Bauern flieht als Vierjähriger mit seiner Mutter vor der Roten Armee, schafft es bis zum Philosophiestudium in München, flieht vor der Einziehung zur Bundeswehr 1961 nach Berlin, bricht das Studium aus Geldmangel ab und legt einen Berufsweg vom Tellerwäscher zum Fotografen hin – mit Zwischenstationen Eisenflechter auf dem Bau und Kneipenbesitzer nicht zu vergessen.
„Fotografie war für mich immer ein politisches Mittel in einem politischen Kampf“, so umschreibt er sein Berufsethos. Seit 1976 war er Parteimitglied der SPD und er verstand sich als Teil der Linken. Er durfte SPD-Delegationen in die DDR begleiten und konnte dabei relativ ungehindert fotografieren. Nach der Wende machte er dort weiter im eigenen Auftrag ungemein emsig Abertausende Fotos: Streiks, Fabriken, Straßen, Bushaltestellen, Schaufenster.
Der Menschenfreund sprach mit den Leuten, die er aufnahm, und packte seine Unterhaltungen in die Bildunterschriften: Erklärungen wie „Ein kubanischer Arbeiter in der Werkshalle, der mit einer Deutschen verheiratet ist. Die Ausländer wurden von ihrer Regierung an die DDR vermietet, ein Teil des Lohns ging direkt an die heimische Regierung“ oder die Information zu einer Arbeiterin im Braunkohletagebau: „Die Schmiererin Gudi muss den ganzen Tag mit einer Ölkanne alle quietschenden Teile des Riesenbaggers schmieren, weil der Lärm sonst unerträglich wäre.“
Wittenberge, Quedlingburg, Bitterfeld, marode Städte mit untergehender Industrie. Viele Bilder liefert er in rauem Schwarz-Weiß. Die Farbaufnahmen der frühen 90er Jahre besitzen noch jene Patina der analogen Farbfotografie, aus dem Staubgrau der Tagebauumgebung treten die Farben hervor.
Noch während seiner schweren Krankheit hat Paul Glaser unermüdlich an der Dokumentation und Katalogisierung seines Lebenswerks gearbeitet, ein pralles Vermächtnis der politischen Strömungen und des Alltags.
Im März ist Paul Glaser gestorben.
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