Ergenekon-Verfahren in der Türkei: Ex-Offizier in Untersuchungshaft
Der frühere Generalstabschef Ilker Basbug sitzt seit Donnerstag im Gefängnis. Seit Beginn des Ergenekon-Verfahrens sitzen mittlerweile 300 Beschuldigte in U-Haft.
ISTANBUL taz | Erstmals in der Geschichte der türkischen Republik ist am Donnerstag ein ehemaliger Generalstabschef ins Gefängnis gesteckt worden. Ilker Basbug, bis August 2010 der höchste Militär des Landes, wurde nach stundenlangen Verhören am Abend einem Haftrichter vorgeführt und noch in der Nacht zu Freitag in Untersuchungshaft gesteckt. Der Sonderstaatsanwalt Cihan Kansiz wirft ihm vor, Leiter einer "terroristischen Organisation" gewesen zu sein.
Konkret geht es darum, dass es innerhalb des Militärs in der Zeit von 2008 bis 2010, als Basbug Generalstabschef war, einen "Plan zur Bekämpfung des Islamismus" gegeben haben soll, der vorsah, durch gezielte Fehlinformationen sowohl die AKP-Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan als auch die einflussreichste islamische Sekte, die Gülen-Bewegung, zu diskreditieren. Ein anonymer Hinweisgeber innerhalb des Militärs hatte die Staatsanwaltschaft darauf aufmerksam gemacht, dass innerhalb des Generalstabs 44 Websites vorbereitet würden, um die Regierung zu destabilisieren.
Die angeblichen Propagandawebsites sind nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Teil der größeren Ergenekon-Verschwörung, die das Ziel hatte, die Regierung zu stürzen. Seit ersten Festnahmen im Ergenekon-Verfahren 2007 sind mittlerweile mehr als 300 Beschuldigte in U-Haft, darunter 250 ehemalige Generäle und andere hohe Offiziere. Mit Basbug sitzt nun der ehemals ranghöchste Militär in U-Haft. Zwei Offiziere hatten ausgesagt, Basbug habe von den Websites gewusst.
Mit den Ergenekon-Verfahren hat die Regierung Erdogan die Macht des Militärs gebrochen. Doch statt in einem klaren Verfahren die wesentlichen Beschuldigten abzuurteilen, wurden die Ermittlungen im Laufe der Jahre immer mehr ausgeweitet. Es gab eine Verhaftungswelle nach der anderen. Da die Sonderstaatsanwaltschaft nach dem Antiterrorgesetz vor einem Sondergericht anklagt, haben die Angeklagten nur einen eingeschränkten Rechtsschutz und müssen teilweise bereits jahrelange Untersuchungshaft hinnehmen.
Obwohl Basbugs Nachfolger Isik Kosaner im August 2011 vorzeitig in den Ruhestand ging und Erdogan damit erstmals die Möglichkeit bekam, mit Necdet Özel einen ihm genehmen und politisch verbundenen Generalstabschef einzusetzen, sind viele AKP-Mitglieder und Kommentatoren aus dem islamischen Lager nach wie vor der Meinung, dass in Militär und Geheimdienst gegen sie konspiriert wird. Dass Basbug jetzt in U-Haft genommen wurde, hat wahrscheinlich auch damit zu tun, dass er der letzte Generalstabschef war, der sich politisch einmischte und Erdogan öffentlich kritisierte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück