Ergebnis der zwölf Berliner Wahlkreise: Blamage für die SPD, Schock für linke Grüne
Die Partei Willy Brandts gewinnt in Berlin nur einen Bundestagswahlkreis. Den Grünen hingegen geht ihre Hochburg Friedrichshain-Kreuzberg verloren.
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Auch wenn der Sieg des Linkspartei-Kandidaten Ferat Koçak in Neukölln das erste Direktmandat seiner Partei in einem reinen West-Wahlkreis bedeutet: Die größte Überraschung der Wahl ist, dass die Grünen den Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg, zu dem auch der Osten von Prenzlauer Berg gehört, an die Linkspartei und ihren Kandidaten Pascal Meiser verlieren. Mit fast 20 Prozentpunkten oder rund 30.000 (!) Stimmen Vorsprung hatte die Grüne Canan Bayram 2021 hier gewonnen, in der langjährigen Wirkungsstätte Hans-Christian Ströbeles. An ihrer Stelle trat dieses Mal die langjährige Landesparlamentarierin Katrin Schmidberger an, alles andere als eine Unbekannte im Wahlkreis – und lag am Ende mehr als 7.000 Stimmen hinter Meiser.
Zwei andere Grüne hingegen gewannen vor Linkspartei-Bewerberinnen, obwohl ihre Partei bei den Zweitstimmen Verluste hinnehmen musste und nicht vorne lag. Julia Schneider in Pankow, bei der manche befürchtet hatten, Grünen-Anhänger könnten sie wegen des desaströsen Umgangs ihrer Partei mit ihrem Vorgänger Stefan Gelbhaar nicht unterstützen, gewann genauso wie Hanna Steinmüller in Mitte. Schneider erreichte fast Gelbhaars Ergebnis.
Das heißt komprimiert: Die Grünen haben dort Wahlkreise behaupten können, wo parteiintern das Realo-Lager dominiert und ihre mitgliederstärksten Kreisverbände zu Hause sind, nämlich in Mitte und Pankow – und dort verloren, wo die Parteilinken das Sagen haben. Das gilt außer für den Schmidberger-Wahlkreis auch für Neukölln. Dort kam der Grüne Andreas Audretsch mit nur 11,1 Prozent lediglich auf Platz 5.
Äußerst knappe Entscheidung
Erstmals durchsetzen konnten sich die Grünen in Tempelhof-Schöneberg. Partei-Ikone Renate Künast, die nach fast 23 Jahren Bundestag nicht mehr antrat, lag zwar schon 2021 wie jetzt auch Moritz Heuberger vor dem CDUler Jan-Marco Luczak. Doch damals sammelte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert knapp noch mehr Stimmen.
Der aber kandidierte ebenfalls nicht mehr, seine Nachfolgerin reichte stimmenmäßig nicht an ihn heran – und Heuberger, Kreisvorsitzender der örtlichen Grünen, konnte in der spannendsten Entscheidung des Berliner Wahlabends gegen Luczak gewinnen. Lange lag Heuberger in der Auszählung zurück, hatte noch zehn Minuten vor Auszählungsende über 300 Stimmen Rückstand und konnte dann dank größeren Rückhalts in den zuletzt ausgezählten Gebieten vorbeiziehen – um 61 Stimmen bei insgesamt über 185.000 gültigen Erststimmen im Wahlkreis.
Betrachtet man deren Verteilung hier genauer, sieht es zumindest so aus, als könnte Heuberger deutliche Unterstützung von Anhängern der Linkspartei bekommen haben: Deren Erststimmenergebnis liegt um gut 5 Prozentpunkte unter ihrem Zweitstimmenergebnis – und genau um diese rund 5 Punkte liegt Heuberger bei seinen Erststimmen über dem Grünen-Parteiergebnis. Beide Parteien einte im Vorfeld der Wunsch, einen Erfolg von Luczak zu verhindern, dessen regulierungskritische Haltung in der Mietenpolitik ihn sogar von seinem Landeschef Kai Wegner trennt.
SPD-Kandidat nur in Spandau vorne
Den vielleicht größten persönlichen Erfolg der Wahl konnte im Wahlkreis Spandau, zu dem auch der Charlottenburger Norden gehört, Helmut Kleebank verbuchen, der frühere Bezirksbürgermeister. Während seine SPD überall sonst in der Stadt Sitze verlor, konnte er gegen den Trend seinen Wahlkreissieg von 2021 wiederholen.
Seine SPD hingegen, die Partei Willy Brandts, der Regierender Bürgermeister war, der neben John F. Kennedy stand, als der am Rathaus Schöneberg sagte: „Ich bin ein Berliner“ – diese Partei ist stadtweit nur noch Nr. 5, auch noch hinter der AfD. Die Parteien liegen zwar vergleichsweise eng zusammen, mit 15,1 bzw. 15,2 Prozent. Aber für die SPD ist es ein historischer Tiefpunkt.
Gegen den Trend in seinem Wahlkreis hätte sich fast auch Mario Czaja behauptet, der kurzzeitige CDU-Generalsekretär. Bei ihm in Marzahn-Hellersdorf wurde die AfD am Sonntag bei den Zweitstimmen fast doppelt so stark wie die CDU – doch bei der Wahlkreisstimme lag Czaja am Ende nur um 0,3 Prozentpunkte hinter Gottfried Curio, dem Kandidaten der AfD. Für die ist es der erste Wahlkreiserfolg in Berlin bei einer Bundestagswahl.
CDU-Neuling gewinnt gegen Promis von Grünen und SPD
Deutliche Wahlerfolge der CDU gab es lediglich in ihren traditionellen Hochburgen Reinickendorf und Steglitz-Zehlendorf, wo sich Marvin Schulz und Adrian Grasse durchsetzten. Spannender wurde es für die CDU noch in Charlottenburg-Wilmersdorf. Dort gewann der erstmals angetretene Lukas Krieger in einem zwischenzeitlich engen Rennen gegen die Berliner Spitzenkandidatin der Grünen, Bundesfamilienministerin Lisa Paus – und gegen Ex-Regierungschef Michael Müller.
Weil ihm die SPD keinen aussichtsreichen Platz auf ihrer Landesliste geben wollte, muss Müller nun den Bundestag verlassen – und mutmaßlich seine politische Karriere beenden. Ins Parlament rücken über die Liste stattdessen SPDler, die viel deutlicher verloren haben.
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