Erforschung der Coronafolgen: Der stille Frühling der Soziologie
Die Gesellschaftsforschung hat sich schnell auf die Coronakrise eingestellt. Ganz spontan entstanden viele Projekte zu den Corona-Folgen.
Quasi über Nacht ist das neue Wissenschaftsgebiet der sozialwissenschaftlichen Coronafolgenforschung entstanden, das untersucht, wie die Gesellschaft mit den neuen Bedingungen der Infektionsprävention an Arbeitsplatz, Lernstätten sowie privatem und öffentlichen Raum fertig wird.
Die neue Coronafolgenforschung ist eine wissenschaftliche Spontanreaktion. Im Unterschied zu den normalen Abläufen im Wissenschaftssystem, wo neue Forschungslinien in Fachgremien lange beraten, Finanzmittel besorgt, Programme entworfen und Ausschreibungen gestartet werden, ist es seit dem Lockdown im März in der Wissenschaft anders gelaufen.
Statt top-down wurden in der Gegenrichtung bottom-up in den Hochschulen und außeruniversitären Forschungsinstituten eine Vielzahl von Projekten aufgesetzt, die zunächst aus eigenen „Bordmitteln“ betrieben werden konnten: Befragungen (in der Regel auch diese „sozial distanziert“ per Telefon oder Internet) etwa zu den Themen, wie schnell sich das Homeoffice in der Wirtschaft verbreitet hat, wie das Homeschooling ankommt und ob durch die Lernhilfsdienste der Eltern das Familienleben bereichert oder belastet ist, aber auch zur psychischen Belastung durch häusliche Isolation und Kontaktsperre.
Prognosen über den Haufen werfen
Die Wirtschaftswissenschaftler durften die meisten ihrer ökonomischen Prognosen über den Haufen werfen und mussten die Folgen der globalen Wirtschaftskrise neu berechnen und Veränderungen des Konsumverhaltens, so der Anstieg des Onlinehandels, in den Blick nehmen. Die Resilienzforschung, bisher ein Orchideen-Fach in der Nische ohne breite außerwissenschaftliche Beachtung, wurde zum rising star der Politik, die damit neue Leitlinien zur technologischen Souveränität und der Stärkung der Widerstandskraft gegen künftige Krisen schmückt.
Eine kleine Auswahl von neueren Forschungsprojekten gibt einen Eindruck von der Bandbreite. Wie sich der Alltag von Kindern durch Kita- und Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen verändert, untersuchte das Deutsche Jugendinstitut (DJI) in einer Onlinebefragung. Das Institut für Psychologie der Universität Hamburg startete eine europaweite Studie zu sozialem Kontakt während der Coronapandemie. Ein Forscherteam der Goethe-Universität und der Universität Hildesheim fragte bundesweit Eltern und Kinder nach ihren Erfahrungen mit den Coronabeschränkungen. Unter dem Projekttitel „CoronaMobility“ untersuchten Wissenschaftlerinnen der TU Dresden die Änderung des Mobilitätsverhaltens in der Pandemie. Die Fachhochschule Dortmund ermittelte in einer Onlineumfrage die Auswirkungen der Coronakrise auf die Lebensqualität.
„Zufrieden und produktiv im Homeoffice“ nennt sich die Ad-hoc-Studie der Technischen Hochschule Köln zur Homeoffice-Zufriedenheit im Kontext der Coronapandemie. Die gleiche Hochschule befasste sich in einer weiteren Befragung mit der Wahrnehmung von Risiken in der Coronakrise. In der Onlineumfrage corona-alltag.de untersuchte das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), wie die Coronapandemie das Arbeitsleben der Menschen in Deutschland grundlegend verändert hat.
Die Uni Hohenheim in Stuttgart publizierte auf ihrer Webseite eine Expertenliste „Die Corona-Krise und ihre Folgen“, die Kontakte zu sieben Themenbereichen offeriert: Forschung zum Infektionsgeschehen, Auswirkungen auf Wirtschaft und Finanzsektor, Auswirkungen auf die Agrarwirtschaft, Folgen für die Arbeitswelt, Gesellschaft und soziale Medien, Bildungssektor in der Coronakrise, sowie Lehren aus der Krise – Vorsorge für die Zukunft. Allein an dieser einen Universität kamen 29 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Forschungsprojekten und Expertise zu den Coronafolgen zusammen. Ein Thema ist die Corona-App: „Wie gehen Menschen mit ihrer Privatheit um?“
Frank Brettschneider, Professor am Fachgebiet Kommunikationswissenschaft der Uni Hohenheim, befasst sich etwa mit der Politik in Coronazeiten und erwartet einen „Wahlkampf in der Warteschleife“, sowohl bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im Frühjahr 2021 als auch bei der Bundestagswahl im Herbst 2021. Wenn Menschen in Sorge sind, komme Wahlkampf gar nicht gut an, erklärt Brettschneider. „Besonders für die Opposition ist es in diesen Zeiten schwer, Gehör zu finden.“ Die Regierung dagegen habe in der Krise alle Hände voll zu tun – und so die Chance, bei den Bürgern zu punkten.
„Doch nach der Coronakrise könnten ganz andere Themen wichtig werden“, gibt der Kommunikationsforscher zu Bedenken, „und die könnten wahlentscheidend sein.“ Ein Fall für die politische Coronafolgenforschung.
Nach der Feldforschung im ersten Halbjahr steht als nächstes die Publikation der Ergebnisse und womöglich auch der Transfer in die Praxis an. Das WZB in Berlin hat sich eine Zwischenform einfallen lassen und bietet seit dem Frühjahr das digitale Kolloquium „Soziologische Perspektiven auf die Corona-Krise“ an. An den wöchentlichen Vorträgen können Interessierte per Zoom teilnehmen, später sind sie als Podcast nachzuhören. Thematisiert wird, welchen Einfluss die Coronakrise auf unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt hat. „Welche Folgen lassen sich schon jetzt abschätzen für Bildung und Bildungsungleichheit, Digitalisierung, Familie, Gesundheit, Mortalität, Pflege, Solidarität, Sozialpolitik und sozialwissenschaftliche Datenerhebung?“ 27 Vorträge wurden seit dem 8. April gehalten. Derzeit ist Sommerpause. Am 30. September geht es in der virtuellen Corona-Uni weiter.
Während die Sozialwissenschaften derzeit emsig untersuchen, wie sich die Gesellschaft wandelt, ist aber noch nicht abzusehen, wie sich auch die Sozialwissenschaften unter der Coronakrise verändern werden. Udo Thiedeke, Professor für Soziologie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, spricht von einem „stillen Frühling der Soziologie“, der die bisherigen Gewissheiten des Fachs herausfordere. Es deute sich eine Zäsur an, wie sie 1986 der Soziologe Ulrich Beck mit seiner Diagnose der „Risikogesellschaft“ verkörpert habe, zeitgleich zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und dem Ende der Technikeuphorie.
„Vielleicht sollte auch die Soziologie die Krise in ihren Besonderheiten als Chance sehen, nicht nur die sozialen Veränderungen mit zu protokollieren Daten zu „erheben“ und dann mit den allzu bewährten Ansätzen zu interpretieren“, schlägt Thiedeke vor. Die Zeit sei reif für neue soziologische Konzepte, „die in der Lage sind, die Auswirkungen gesellschaftsübergreifender Entwicklungen als soziale Tatsachen auch für die Individuen mit ihren nur relativen Autonomiemöglichkeiten zu erfassen“.
Ein Thema wird der gesellschaftliche Zusammenhalt sein, für dessen Erforschung mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) inzwischen sogar ein eigenes Institut gegründet wurde. „Die Soziologie“, meint ihr Mainzer Fachvertreter Thiedeke, habe „viel zu lernen im stillen Frühling 2020, den uns ein neues Virus so überraschend beschert hat.“
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