Erfinder des Comics: Reise zum Ursprung des Comics
Zum 170. Todestag Rodolphe Töpffers macht eine Ausstellung in Wiedensahl sichtbar, was Wilhelm Busch von dem Genfer Kauz gelernt hat
Selbstverständlich. Und selbstverständlich gibt's in Petershagen keinen Wegweiser nach Wiedensahl, denn erstens liegt das in Niedersachsen, also von Petershagen, NRW, aus quasi Ausland, und zweitens ist Petershagen eine veritable Stadt. Und so weit, dass man von einer Stadt auf einen benachbartes Kaff hinweist kommt's noch, auch wenn der Flecken auf seine Weise berühmt ist wegen – waren wir hier nicht gerade schon einmal?
Flecken passt besser zum Thema. Denn in Wiedensahl ist Wilhelm Busch geboren, hier hat er den größten Teil seines Lebens verbracht. Und deswegen ist der Ort berühmt, naja, oder er könnte es wenigstens sein. Am ehesten dafür sorgen könnte wohl das Wilhelm Busch-Geburtshaus, wenn es sich noch etwas offensiver als Comic-Museum verstehen dürfte: Die Direktorin Gudrun-Sophie Frommhage-Davar, Malerin und Kunstpädagogin, und ihr Mann, der freischaffende Kurator Darjush Davar hätten da nichts gegen. Sie haben, parterre, mit smarter Technik, Buschs Leben aufbereitet und Zugänge zum Werk eröffnet. Mit Ausstellungen unterm Dach kontextualisieren sie es, sprich: Sie bringen es in Kontakt mit den zeitgenössischen künstlerischen Szenen, die sich auf Busch beziehen: Karikaturisten und Comiczeichner. Und sie spüren seine Quellen auf, wie jetzt ind er Schau „Literatur in Bildern – Die Bild-Geschichten des Rodolphe Töpffer“. Wobei das Wort Comic im Titel fehlt, weil es im Trägerverein eine Kontroverse zu geben scheint, ob Comic etwas ist, womit man zu tun haben mag. Ja, in Deutschland sind Vorbehalte gegen Comics mitunter noch auf einem recht unreflektierten Niveau lebendig. Und gerne sähe mancher in Wiedensahl das Interesse mehr aufs malerische Oeuvre des Lokalmatadoren gelenkt, „aber Wilhelm Busch ist nun mal nicht für seine Ölgemälde berühmt“, sagt Davar.
Massive Zuwendung
Rodolphe Töpffer: Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois und andere Geschichten, hg. von Simon Schwartz, Avant-Verlag. 280 S., 39,90 Euro
Ausstellung: „Literatur in Bildern – Die Bildgeschichten des Rodolphe Töpffer“, Wilhelm Busch-Geburtshaus, Wiedensahl, Di-Fr 10-12 und 13-17 Uhr, Sa, So und an Feiertagen 10-17 Uhr
Das stimmt. Seine Bedeutung hat Busch als ein Pionier bei der Herausbildung des ersten multimodalen Mediums, das heute als „Bande Dessinée“ oder „Historieta“ oder „Fumetti“ oder Comic einen geläufigen Namen hat – und doch noch weitgehend unverstanden ist. Deshalb erfährt es zur Zeit auf akademisch-elitärer Ebene massive Zuwendung: Zu kapieren, wie und durch welche Hirnverschaltungen die Simultaneität von gezeichnetem und geschriebenem Erzählen im Bewusstsein erfasst und verarbeitet wird, ist im digitalen Zeitalter wichtig, weil in ihm die meisten relevanten Medien multimodal sind, oder hybrid.
Sie verschmelzen mehrere kommunikative Ebenen miteinander, so wie es eben der Comic mit Text und Bild tut, ohne dass beide partout immer präsent sein müssten: Es gibt sogar in populären Alben wie Tim und Struppi oder Asterix ganze Panel-Sequenzen, die nur Sprechblasen, keine Bilder enthalten, und etliche Comics erzählen wortlos mit nur latenter Sprache. Auch deshalb erhält das Projekt „Hybride Narrativität“, das „Methoden zur Erforschung graphischer Literatur“ entwickeln soll, vom Bundesministerium für Forschung 1,9 Millionen Euro – eine Rekordsumme für ein geisteswissenschaftliches Vorhaben.
Ohne Rodolphe Töpffer gäbe es das nicht. Oder vielleicht doch, aber anders. Und schon deswegen lohnt der Weg hierher, denn im Dachgeschoss des mächtigen Fachwerkhauses, in dem Busch geboren ist, kann man Töpffer kennen lernen. Den verkannten, den Vergessenen, das Genie. Die Quelle. Rodolphe Töpffer, der am 8. Juni 1846 in seinem Geburtsort Genf gestorben ist, mit gerade mal 47 Jahren, hat nirgends die Anerkennung, die er verdient, aber in Deutschland ist es am wenigsten. Viel weniger als in Frankreich, wo der Semiotiker Thierry Groensteen klar gemacht hat, dass der Schweizer der „inventeur de la Bande Dessinée“, der Erfinder dieses Mediums war.
Und weniger auch als im anglophonen Raum, wo diese Einsicht der Comic-Weise Scott McCloud und der Kunsthistoriker David Kunzle verbreitet haben. In Deutschland plädiert jetzt der anerkannte Grafiknovellist Simon Schwartz dafür, endlich einmal ernsthaft den krakelig-versponnenen Stil des kauzigen Schweizers und seine grafische Experimentierlust zu würdigen.
Schwartz hat das durch eine Edition dreier zwischen 1827 und dem Tod Töpffers entstandener Comic-Erzählungen dazu beigetragen. Denn bislang gab es nur unzulängliche Ausgaben. Die Wiedensahler Schau macht die europäische Rezeption des Werks sichtbar, die fast immer den Autoren Töpffer verschleierte. In den von Töpffer selbst edierten Original-Bänden bewahrt die Autografie-Technik seine extrem-verbundene Handschrift und die tänzerisch-chaotische Linienführung der Zeichnungen. In Frankreich dann werden die Bilder, immerhin noch in Absprache mit dem Urheber, vom begabten Illustrator Cham in Holzstiche übertragen: Die lassen sich in hoher Auflage reproduzieren, sind aber viel statischer. Und vor allem ist der Holzstich kein Umdruck- sondern ein Hochdruckverfahren, das heißt, die Bilder erscheinen gespiegelt auf dem Papier. Spätestens die Raubkopierer, die Töpffers Werke ins Englische, ins Deutsche, ins Niederländische, ins Schwedische und ins Finnische bringen, machen sich darum keinen Kopf mehr, weil sie glauben, Bilder hätten keine Leserichtung. Was die Dynamik killt. Im Gegenzug eignen sie sich die Autorschaft an.
Reißenden Absatz finden die Bücher trotzdem: In den Niederlanden wird Mijnheer Prikkebeen extrem populär, der auf haargenau der gleichen, chaotischen Reise exakt dieselben Abenteuer erlebt, wie Töpffers Monsieur Cryptogame – er flieht vor einer Frau, die ihn mit ihrer Liebe behelligt. Er könne als „het eerste Nederlandse stripverhaal“ angesehen werden, informiert wikipedia.nl, der erste niederländische Comic. Mit dem Song „Meester Prikkebeen“ bringt Hollands Antwort auf Bob Dylan, Boudewijn de Groot, noch heute seine Fans in Verzückung, und ein Musical dieses Titels war auch mega-erfolgreich.
Wie groß der Verlust ist, das Ausmaß der Verwüstungen, lässt sich wirklich erst in der Gegenüberstellung erfahren, die Davar besorgt hat. Denn wie immer die Editionen auch den Zauber der Töpfferschen Linien korrumpiert haben, ganz zerstören konnten sie ihn nie. Die Erfahrung hat auch Simon Schwartz gemacht: „Ich bekam eher per Zufall eine Ausgabe aus den 1970ern in die Finger“, erzählt er von seiner ersten Begegnung mit dem Genfer. Die sei „katastrophal“ gewesen, „einmal radikal verkleinert, um mehr als die Hälfte, und dann hatte man eine brutale, schreckliche Schrift in diese Kästchen reingequetscht“. Das Grauen pur. Und „trotzdem haben mich diese Geschichten sofort gekriegt.“
Schwartz ist ein prominenter Vertreter der „Hamburger Schule“: 2012 hat er für seinen Band „Packeis“ den Max und Moritz-Preis für den besten deutschen Comic bekommen. Seit fünf Jahren ist er Dozent an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaft – wo er zuvor selbst bei Anke Feuchtenberger studiert hatte. In die Rekonstruktion von angemessenen Fassungen der Töpffer-Geschichten hat er nicht weniger Arbeit und Akribie gesteckt als in ein eigenes Buch. Töpffer ist ihm eine Herzenssache: „Es ist grundsätzlich wichtig zu wissen, woher das kommt, was man macht“ sagt Schwartz. „Es ist wichtig, zu wissen, in welchen Kontexten die typografischen Standards und grafische Formeln entstanden sind, die man heute wie beiläufig benutzt.“
Überraschend viele davon hat Töpffer erprobt und entwickelt: Am modernsten wirken wohl seine Experimente mit den expressiven und dynamisch-rhythmischen Möglichkeiten des Bildrahmens. Mitunter staucht er Panels wie eine Ziehharmonika, bis das letzte der Reihe auf Textebene gerade noch für eine Ziffer Platz lässt, und die Zeichnung auf drei Linien und ein Krakel zusammenschnurrt: Isoliert wäre sie völlig sinnlos. Mit den übrigen Panels der Sequenz aber wird sie Teil einer sich beschleunigenden Bewegung – und witzig, noch bevor der Text in die Pointe mündet. Der entspricht dann zeichnerisch ein Splash, also ein Panel, das fast die halbe Seite einnimmt, und größer ist als die acht vorhergehende Bildkästchen. Solche Spiele mit dem Format werden erst Mitte des 20. Jahrhunderts wieder versucht.
An anderer Stelle war Töpffers Einfluss unmittelbarer: Sofort durchgesetzt haben sich seine zeichnerischen Formeln für Bewegung. Und wenn Wilhelm Busch Meerschaumpfeifen explodieren lässt, gleichen die Linien, die das ausdrücken denen, mit denen Töpffer Elvire, die Liebhaberin Monsieur Cryptogames, am Ende des gleichnamigen Buchs vor Eifersucht platzen lässt, als sie erfährt, dass dieser, dabei hätte sie es ahnen müssen, heimlich schon verheiratet ist. In seinem „Essai de physiognomonie“ (1845) reflektiert er, warum in der von ihm, wie ihm klar ist, erfundenenen seriellen Kunst ein Running Gag ein gutes Mittel ist. Und er erläutert, dass er im Comic funktioniert, indem er eine komplexe Handlung – die Stürme einer väterlichen Erziehung – in ein schnell fassbares Bildsymbol bringt: Das besteht in diesem Fall aus einem Zeigefinger, der, wie Gott Adam und Eva aus dem Paradies, den Junior, dessen Kopf schon nicht mehr auf dem Bild ist, aus dem Panel verweist. Und einem Fuß, der dessen Sturz mit einem kräftigen und unter die wehenden Rockschöße platzierten Tritt beschleunigt.
Verschriftlicht ist das allenfalls ein plumper Spaß. Als immer wiederkehrendes Bild ist es hingegen so schnell, dass Komik entsteht: Töpffer hat's gewusst. Er nutzt solche repetitiven Strukturen ab dem ersten seiner Comics, „Monsieur Vieuxbois“, der voller Leidenschaft seinem objet aimé hinterherhechelt, Jacques Lacan hätte seine Freude gehabt. Immer, wenn er einsieht, dass die Begehrte sich jedem Zugriff entzieht, dass jeder Versuch, sein Begehren zu erfüllen, misslingt, verlegt sich der Protagonist darauf, sich selbst zu töten. Aber auch dieses Ziel bleibt unerreicht, auch dieser Versuch misslingt, immer und immer wieder. Aufs Schönste: Der Comic erzeugt Figuren, die auf eine merkwürdige Weise robust sind.
Es sind Figuren, die aussehen, wie Menschen, die aber einerseits ihr ganzes Leben, ihre Energie und ihre Geschichte aus ihrem Aussehen beziehen: „Ohé!“, habe er sich gedacht, so beschreibt Töpffer im „Essai“ die Geburt des Comics aus dem Geist der Kritzelei, „dieses Gesicht“, dass er „durch eine völlig zufällige Laune der Feder“ gefunden habe, stelle zwar ein Individuum dar, berge in sich aber auch dessen ganze soziale Stellung und Geschichte, bis dahin „dass ihn seine Frau nervt“. Daraufhin habe er das ausprobiert – „und tatsächlich nervte ihn seine Frau“. In der Skizze steckt ein ganzes Leben, das erzählt sein will.
Und das sich als überraschend resistent gegen Gewalt erweist: Comic-Figuren sind nicht verwüstlich, selbst die übelsten Misshandlungen hinterlassen keine Narben. Das ist etwas ganz Neues: So etwas gibt es bis dahin weder in erzählender Literatur, noch im Theater, nicht mal in der Commedia dell' arte. Und wenn ein Held aus einer Schlägerei im Film ohne Narben und Quetschungen hervorgeht, nennt man's einen Anschlussfehler.
Töpffer scheint ein gar nicht mal unsadistisches Vergnügen dabei empfunden zu haben, seine Messieurs und Mesdames durchzuwalken. Bereits in der ersten seiner Bildergeschichten, „Les Amours de Monsieur Vieux Bois“, gerät ein Mann durch eine Verkettung unglücklicher Umstände in die Speichen einer Wassermühle. Sieben volle Seiten lang fährt die mit ihm hoch, wieder runter, taucht ihn ein, fährt – während parallel die Handlung weiterläuft – wieder hoch. Dann endlich, hat er sich befreit: völlig unversehrt.
Am Fleischerhaken
In der vielschichtigeren Grafic-Novel „Monsieur Pencil“ (1831/40) hält ein Gelehrter den braven Bürger Jolibois für einen Außerirdischen, hängt ihn erst an einem Fleischerhaken in sein Naturkundekabinett, um ihn später, gefesselt und in eine Kiste gesperrt, per Post an die Akademie zu schicken.
Volle 30 Seiten ist der arme Mann nun dazu verdammt, als Kiste, die natürlich von der Kutsche geraubt worden und dann von den Räubern auf der Flucht verloren gegangen ist und dabei Löcher bekommen hat, durch die Handlung zu rumpeln: Die Möglichkeit, Dinge mit Menschen zu füllen, und diese ihrer humanen Kontur beraubten Personen in Gang zu setzen, auch das ist eine spezifische Option des Comic, die Töpffer kreiert hat. Wobei eben längst noch nicht klar ist, wie sie sich tradiert hat: Ein Bindeglied könnte Comic-Pionier Rudolph Dirks sein. In manchen seiner frühen Arbeiten wirkt es, als hätte er nicht nur Max und Moritz-Kenntnisse aus Europa mit nach Amerika genommen: So sperren seine „Katzenjammer Kids“, die jeder als Wiedergänger der Wiedensahler Lausbuben erkennt, den Captain, ihren bekloppten Vaterersatz, 1904 in eine Strandkabine, die sie mit Draht zuschnüren und an einen Zug binden. Der fährt weg, die bemenschte Kiste poltert hinterher, wie bei Toepffer.
Wobei das unwahrscheinlich ist: Dirks war erst sieben, als die Familie aus Heide in Holstein in die USA auswanderte, zwölf Jahre später, am 12. 12. 1897, erscheint der erste Katzenjammer-Strip. Bis heute aber sind Hans and Fritz nicht gebacken, zermahlen oder gefressen. Dass sie – running Schlussgag – einmal wöchentlich verprügelt werden, hat sie nicht verändert. Sie sind noch so klein wie im Herbst 1897. Und kein Stück älter.
New York. Heide in Dithmarschen. Genf. Wiedensahl, ach!, die Geschichte des Comics hat seltsame Stationen. In Wiedensahl, wo einer ihrer Anfangspunkte liegt, hat der Trägerverein bis zwei Wochen vor der Vernissage gewartet, mit der Zusage, dass die Töpffer-Ausstellung stattfinden kann, „da haben wir natürlich keine Originale mehr als Leihgabe aus Genf bekommen“, sagt Davar. Gesichtet hat er sie schon, er schwärmt nur so von ihnen, weil die eben noch viel lebendiger seien, als die Autografien. Sie sind der wahre Ursprung. Und wenn die Ausstellung im kommenden Jahr nach Schwarzenbach wandert, ins Erika Fuchs-Haus, sollen sie dabei sein. In Entenhausen an der Saale ist man dem Comic gegenüber aufgeschlossen. Aber dort bleibt einem auch nichts anderes übrig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“