: Erben, was man ahnt
ILB 7 Die ghanaisch-amerikanische Autorin Yaa Gyasi verfolgt mit ihrem experimentellen Romandebüt „Heimkehren“ die Wege von sieben Generationen einer afrikanischen Familie während der Sklaverei
Die Lesung am Dienstagabend im Haus der Berliner Festspiele stellt Besucher gleich vor zwei wunderbare Rätsel. Wie gelingt es dem Team des Internationalen Literaturfestivals Berlin immer wieder, so viele Menschen zu Autorenlesungen zu locken, wie es unter anderen Umständen nirgendwo hierzulande denkbar wäre?
An die 150 Zuschauer drängen sich vor der Seitenbühne, und das, obwohl „Heimkehren“, Debütroman der ghanaisch-amerikanischen Autorin Yaa Gyasi gerade erst erschienen ist. Es wird kaum so viel Aufmerksamkeit erregen wie das aktuelle Werk von Bestsellerautor Colson Whitehead zum selben und gerade wieder breit diskutierten Thema der Sklaverei und ihren Auswirkungen auf die USA der Gegenwart.
Das zweite Rätsel stellt sich sofort zu Beginn der Diskussion zwischen Yaa Gyasi und der britischen Autorin Priya Basil, die diese moderiert: Wie ist es möglich, dass ein experimentelles Buch auf derart mitreißende Art den Spannungsbogen hält? Yaa Gyasi hat ein Buch über Sklaverei verfasst, wie es noch keins gegeben hat. Es setzt mit der Beschreibung zweier Halbschwestern – Effia und Esi – Mitte des 18. Jahrhunderts im heutigen Ghana ein. Sie werden sich nie kennenlernen: Die eine heiratet einen britischen Sklavenhändler, die andere gerät in Gefangenschaft und wird als Sklavin nach Südamerika verkauft.
Bis in die Gegenwart
Nach wenigen Seiten ist Schluss und es werden die Geschichten von Effias Sohn Quey in Ghana erzählt, der eine Frau heiraten muss, die er nicht liebt – und die von Esis Tochter Ness in den USA, die bereits als kleines Mädchen verkauft und ihrer Mutter entrissen wird. So geht es weiter über sieben Generationen und 14 Heldinnen und Helden, bis in die Gegenwart. Immer wieder muss sich die Leserin auf neue Personen und Zeiten einstellen. Und trotzdem stellt sich zu keinem Zeitpunkt Frustration ein, denn die 1989 geborene Yaa Gyasi verfügt über mächtige Klebstoffe, die ihre Geschichte zusammenhalten. Moderatorin Priya Basil zitiert die Autorin: „Every moment has a precedent and comes from this other moment, that comes from this other moment, that comes from this other moment.“ Anders gesagt: Yaa Gyasi wirft in ihrem Roman die Frage auf, was es mit Menschen macht, wenn alle ihre Vorfahren in den letzten 300 Jahren ausgebeutet, missbraucht, mit den Füßen getreten wurden. Wie empfinden dagegen jene, deren Vorfahren für all das mitverantwortlich waren – die über Generationen ihre eigenen Nachbarn eingefangen und sie an die Kolonialmächte verschachert haben? Kann man nur von seinen Eltern, Großeltern und Urgroßeltern erben, was man sieht? Oder zumindest weiß?
Oder kann man auch erben, was man nur ahnt? Yaa Gyasi spielt in ihrem Roman mit diesen Fragen, indem sie alle US-Sprösslinge der Familie Angst vor dem Wasser und alle ghanaischen vor dem Feuer haben lässt. Die einen fürchten das Meer, über das sie fuhren – die anderen Verwüstungen im Kampf um Macht, Geld und Überleben.
Der andere Trick, mit dem Yaa Gyasi ihre Leser verzaubert, ist der: Als Autorin, so berichtet sie bei der Lesung, hat sie unendlich viel für ihren Roman recherchiert, Unmengen von Literatur gelesen. Aber alle Bücher, die sie fand, wurden natürlich von männlichen Weißen geschrieben – also nicht von jenen, über die Yaa Gyasi schreiben wollte.
Yaa Gyasi hat den Menschen, die sie beschreibt – die natürlich nie geschrieben haben, nie aufschreiben konnten, was ihnen widerfahren ist –, eine Stimme verliehen. Allein deshalb hat diese tolle Autorin den tosenden Beifall am Ende ihrer Lesung in Berlin mehr als verdient.
Susanne Messmer
Das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb) läuft noch bis 16. 9. In unserer ilb-Kolumne berichten unsere AutorInnen von den Lesungen und Diskussionen.
Gyasi, Yaa: „Heimkehren“. DuMont Verlag Köln 2017, 416 S., 22 Euro
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