■ Er ist da, Jassir Arafat, Mann für Überraschungen: Der Ben Gurion der Palästinenser
Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Wer vor einem Jahr die Prophezeiung gewagt hätte, die israelische Regierung würde Tausende von Polizisten und Soldaten mobilisieren, um Jassir Arafat den sicheren Einzug in Gaza zu garantieren, wäre sofort für gaga erklärt worden. Und nun ist es passiert: Während in Bosnien noch immer über einen Waffenstillstand verhandelt wird, in der Bundesrepublik die Frage der Postreform alle anderen Probleme überlagert, wird in einer Region Geschichte gemacht, in der vierzig Jahre lang das Reden über den Status quo schon als eine Bedrohung desselben galt.
Was man sich klarmachen muß, um das Tempo der Entwicklung zu begreifen: Vor noch nicht einmal drei Jahren sind die Friedensverhandlungen in Madrid begonnen worden, damals noch unter der Regierung von Jitzhak Schamir, dem es vor allem darauf ankam, so zu tun, als ob, um möglichst lange auf der Stelle zu treten. Es ist noch einmal ein Jahr her, daß in Oslo die Grundsatzerklärung zwischen Israel und der PLO abgefaßt wurde, die einer gegenseitigen Anerkennung den Weg frei machte. Und es sind gerade zwei Monate, daß die Autonomie in Gaza und Jericho in Kraft getreten ist, schlecht vorbereitet und amateurhaft ausgeführt, aber immerhin – es sind neue Fakten geschaffen, gute Absichten in kleinen praktischen Schritten umgesetzt worden. Statt das Spiel „Alles oder nichts“ weiterzuspielen, haben Israelis und Palästinenser begriffen, daß sie sich nur stufenweise voneinander lösen können. Als ein erster Schritt war und ist die Autonomie-Regierung für Gaza und Jericho die einzige realistische Option gewesen: Mehr hätten die Palästinenser praktisch nicht handhaben können, mehr hätten die Israelis nicht verkraftet.
Doch die Erfahrung lehrt, daß die israelische Öffentlichkeit sich auf neue, unvorstellbare Situationen relativ schnell einstellt. Als Sadat 1977 ins Land kam, glaubten alle an ein Wunder, die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Kairo war nur noch Routine. Als der Sinai 1982 geräumt wurde, waren zwei Drittel der Israelis dagegen, ein halbes Jahr später war das kein Thema mehr. Der erste Händedruck zwischen Arafat und Rabin schien eine Fata Morgana zu sein, inzwischen wird darüber spekuliert, wann sich Rabin und Assad treffen werden. Die Wirklichkeit in und um Israel verändert sich schneller, als die Menschen schauen und hören können. Auch die Kommentatoren, die jede Krise zur Katastrophe stilisieren, die den Friedensprozeß längst totgeschrieben haben, weil sie ihn totschreiben wollten, werden nun eines Besseren belehrt: Manchmal geht ein Kamel doch durch ein Nadelöhr.
Und wem haben wir das alles zu verdanken? Einem komischen kleinen Mann, einem Kobold mit einer Kefiyah auf dem Kopf, einem Angeber, Wichtigtuer und notorischen Junggesellen, der so lange behauptete, mit Palästina verheiratet zu sein, bis er schließlich eine Frau ehelichte, die seine Enkelin sein könnte. Vielleicht hat sie ihn davon überzeugt, daß Leben mehr bieten kann als Kampf und Heldentum rund um die Uhr. Keine Frage: Arafat ist eine charismatische Gestalt, eine Autorität, ein Visionär. Und er ist zugleich ein Pragmatiker, der eher als die Israelis begriffen hat, daß es zu einem Miteinander keine Alternative gibt. Er hat es weiter als Moses gebracht, dem es nicht vergönnt war, das Land seiner Träume zu betreten, er wird als der Ben Gurion der Palästinenser in die Geschichte eingehen.
Die Israelis werden den Schock, ihn eine halbe Autostunde von Tel Aviv entfernt zu wissen, bald überwunden haben. Und sich auf neue Überraschungen gefaßt machen. In einem Jahr wird Jassir im Café Atara mitten in der Jerusalemer Fußgängerzone sitzen und Autogramme geben. Eine junge Kellnerin wird ihm einen arabischen Kaffee bringen und ihm sagen: „Bruchim haba'im, Jossi“, gesegnet seien die Heimkehrenden. Henryk M. Broder
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