Entsorgung von strahlendem Schlamm: Vor Cardiff ins Meer
EDF baut den Atomreaktor Hinkley Point C. und entsorgt mutmaßlich strahlenden Aushub vor der walisischen Hauptstadt. Das ist offenbar legal.
Cardiff taz | Es ist sehr früh am Montag, als der Fischkutter „Bad Boyz“ auf dem Severn, dem längsten Fluss Großbritanniens, durch das noch schlafende Cardiff gleitet. Von der walisischen Hauptstadt aus steuert er das belgische Spezialschiff „Sloeber“ an, das auf einem Monitor als sich bewegender Punkt in der gigantischen, 25 Kilometer breiten Flussmündung Severn-Ästuar zu sehen ist.
An Bord der „Bad Boyz“ befindet sich eine Gruppe von Atomkraftgegnern, an Bord der „Sloeber“ Schlamm aus der unmittelbaren Umgebung der britischen Atomanlage Hinkley Point, der zwei Kilometer vor Cardiff versenkt werden soll.
Der Schlamm ist Aushub vom Bau des umstrittenen neuen Reaktors Hinkley Point C, mit dem die seit 1957 bestehende Anlage erweitert werden soll. Die britische Regierung hat das französische Unternehmen EDF, das den Reaktor mit hohen staatlichen Subventionen baut, beauftragt, den Boden zu entsorgen. Auch ein chinesisches Unternehmen ist daran beteiligt. Insgesamt geht es um rund 200.000 Kubikmeter aufgeweichte Erde – vermutlich radioaktiv belastet.
Als die „Bad Boyz“ sich dem Schlammschiff nähert, nimmt ein Boot der Küstenwache die Verfolgung auf, Zuschauer sind hier nicht gern gesehen. Da öffnet sich das längliche Schiff plötzlich auf beiden Seiten. Eine braune Masse rutscht ins Wasser, die Strömung ist an dieser Stelle aber so stark, dass der Schlamm nicht gleich in die Tiefe sinkt.
Zu viele Fragen
Auf der „Bad Boyz“ sind auch Prominente. Neil McEvoy, ehemals Mitglied der walisischen Nationalpartei, aber wie er der taz sagt, „aufgrund meiner zu vielen Fragen“ derzeit dort ausgeschlossen und nun unabhängiger Abgeordneter im walisischen Senat. Und Cian Ciaran von der walisischen Band Super Fury Animals.
Die beiden wollen in einem Livestream und mithilfe einer Drohne und einer digitalen Kamera von oben dokumentieren, was an diesem Ort fast täglich passiert. Denn sie sind davon überzeugt, dass die Behörden bei der Genehmigung für die Verklappung des Schlamms geschlampt haben.
Im Sommer hatten McEvoy und Ciaran versucht, die weitere Versenkung des Hinkley-Point-Schlamms durch eine einstweilige richterliche Verfügung zu stoppen. Dabei kam heraus, dass EDF tatsächlich keine Umweltverträglichkeitsprüfung für sein Vorgehen vorlegen konnte. Außergerichtlich einigte man sich darauf, dass die walisische Nationalversammlung entscheiden soll, wie es weitergeht.
Am heutigen Mittwoch wollen die Abgeordneten über einen Antrag Mc Evoys abstimmen. Umweltorganisationen wie Greenpeace haben parallel zu der Abstimmung zu Protesten aufgerufen, seit Tagen kursieren im Internet Petitionen und Aufrufe, die Versenkung des Schlamms zu verbieten.
Keine Antworten
Die Kritiker argumentieren vor allem damit, es sei unkalkulierbar, wie sich die zähe Substanz auf lange Sicht verhalte. Der erste Anstoß zu den Fragen stammte von Tim Deere-Jones, einem Musiker, der auch als wissenschaftlicher Berater zu radioaktiver Belastung im Marinebereich anerkannt ist.
Er schildert der taz, dass er bereits in den 1980er Jahren als Teil seiner Diplomarbeit recherchiert hatte, wie radioaktive Partikel aus der Atomanlage Sellafield im nordenglischen Kumbrien tief in das Landesinnere von Wales migrierten. „Wo wird der Schlamm aus Hinkley enden?“, fragt er. EDF jedenfalls habe ihm darauf keine Antwort geben wollen oder können.
„Wo wird der Schlamm aus Hinkley enden?“
Auf taz-Anfrage erklärt ein EDF-Sprecher, dass es niemandem Sorgen machen müsse, wenn der Schlamm im Wasser vor Cardiff abgeladen werde. Letztlich handle es sich um ein umweltgerechtes Deponieren. Denn der Boden stamme aus einem Schutzgebiet, und ausgehobene Sedimente müssten für das „natürliche Gleichgewicht“ wieder in die gleiche Gegend eingelegt werden.
Auch mögliche radioaktive Strahlung sei zu vernachlässigen, heißt es. Das der britischen Regierung unterstehende Prüfungslabor Cefas hat Schlamm aus Hinkley untersucht und erklärt, die Strahlungswerte lägen unter den Grenzwerten, eine spezifischere Untersuchung sei deshalb nicht notwendig.
Simplifizierung und Skandal
Das bedeute konkret, dass gar nicht mehr weiter nach bestimmten Partikeln gesucht würde, sagt Deere-Jones: „Und es bedeutet weniger Aufwand und weniger Kosten.“ Dabei habe das Institut nur Proben aus bis zu fünf Zentimeter Tiefe analysiert. Historische Verschmutzungen „aus den dreckigen Jahrzehnten“ könnten aber bis zu einem Meter tief eingesunken sein.
Auch Strahlungsexperte Paul Dorfman hält das Vorgehen von Cefas für „Unsinn“. Das ehemalige Mitglied des britischen Regierungskomitees zur Strahlensicherheit sagt: „Was Behörden in Sachen Verstrahlung regulieren und standardisieren, steht nicht im Einklang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern ist eine Simplifizierung!“
Als Ergebnis der vereinfachten Darstellungen habe sich seit gut einem Jahrzehnt die Praxis durchgesetzt, verstrahlten Schlamm nicht – wie nötig, aber kostspielig – konzentriert zu lagern, sondern ihn zu verdünnen und dann zu verteilen, wie jetzt vor Cardiff. Die sich unkontrolliert verbreitenden strahlenden Partikel gefährdeten neben der Umwelt vor allem Heranwachsende und Menschen mit bestimmten genetischen Markern.
Auch politisch ist Schaden absehbar. „Die Schlagzeile ‚Englischer Müll auf der anderen Seite der Flussmündung vor der 400.000-Einwohner Hauptstadt von Wales versenkt‘ ist ein Grund mehr, mich für die Unabhängigkeit Wales einzusetzen“, sagt Neil McEvoy.
Leser*innenkommentare
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
Auslandskorrespondent Großbritannien, Autor des Artikels
Als Bad Boyz Cardiff durch eine Schleuse verliess, war es erst mal ein Polizeibus, später n der Flussmündung ein kleines Boot... beide, das Überwachungsboot und das "Schlammschiff" kann man hier sehen www.walesonline.co..._campaign=sharebar . Es wurde in der Nacht aufgenommen, welcher ich für taz beiwohnte, von der erwähnten Drohne aufgenommen.
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
Auslandskorrespondent Großbritannien, Autor des Artikels
Ein paar extra Infos, die aufgrund der Längenbegrenzung gestrichen werden mussten befinden sich hier!
https://dzx2.wordpress.com/2018/10/10/extra-infos-hinkley-cardiff/
festus
@Daniel Zylbersztajn-Lewandowski Ich kann im wordpress-link leider in zwei Browsern keinen Text öffnen. Was "nimmt ein Boot der Küstenwache die Verfolgung auf" angeht: So eins? www.baesystems.com...product/pacific-24 Stimmt schon, da steht coast guard dran.
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
Auslandskorrespondent Großbritannien, Autor des Artikels
@festus Sorry dzx2.net/2018/10/1...os-hinkley-cardiff . Die Abstimmung ging gegen McEvoys Antrag aus. Lesley Griffiths, Energie Sekretärin des Senedd, sagte die Aktivisten verteilen Angst und Lügen, die mit angedrohten Aktionen um den Auswurf zu stoppen, öffentliche Sicherheit gefährden würden.
Franz Georg
Alles nur eine Frage der politischen Einstellung:
1) Es gibt Menschen, die sind der Meinung, dass die Umwelt zu vergiften was schlechtes ist - die nennen wir links/sozial/grün/Wissenschaftler usw.
2) und es gibt Menschen die meinen, dass die Umwelt zu vergiften zwar langfristig teuer ist, aber kurzfristig bringt es mehr Gewinn und für die zusätzlichen Kosten muss dann eh der Steuerzahler aufkommen, es ist also positiv die Umwelt zu Zerstören - diese Menschen nennen konservativ/wirt.-liberal/Demagogen/rechts.
Jeder Mensch muss mit seinem Gewissen, Überzeugungen und Werten entscheiden, welche Argumente wichtiger sind und zu welchem Lager er damit gehört.
[Evtl, gibt es auch noch eine dritte, vierte, ... Sichtweise, mir fallen gerade nur die beiden ein.]
Wurstprofessor
@Franz Georg Plump, platt, pathetisch, plöd.
Franz Georg
@Wurstprofessor Könnten Sie das bitte präzisieren und mir gezielt plumpe, platte, pathetische oder plöde Stellen nennen?
Oder bspw. Ihre (dritte) nicht plumpe, platte, pathetische oder plöde Sichtweise.
Nur durch Kommunikation können wir unser Wissen erweitern, also bitte ich Sie zu kommunizieren :-)
Karo
@Wurstprofessor selber