Entscheidung des Bundessozialgerichts: Existenzminimum auch für EU-Bürger
Wer länger als sechs Monate in Deutschland lebt, hat Anspruch auf Sozialhilfe. Aber: Hartz-IV-Leistungen gelten nicht für jeden, urteilen die Richter.
Sie dürften zwar von Hartz-IV-Leistungen ausgeschlossen werden, könnten aber Anspruch auf Sozialhilfe haben. Bei einem kürzeren Aufenthalt als sechs Monate habe das Sozialamt ein „Ermessen“, Sozialhilfe zu gewähren. Dabei könnten etwa bestehende Krankheiten oder andere Gründe für den Anspruch auf Hilfe eine Rolle spielen.
Nach den gesetzlichen Bestimmungen sind arbeitsuchende EU-Bürger trotz des EU-Rechts auf Freizügigkeit von Hartz-IV-Leistungen grundsätzlich ausgeschlossen. Erst wenn eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung von mindestens einem Jahr besteht, können sie bei anschließender Hilfebedürftigkeit dauerhaft Hartz IV beanspruchen. Bei einer Beschäftigung von weniger als einem Jahr können sie für maximal sechs Monate Arbeitslosengeld II erhalten.
Dieser weitgehende Ausschluss arbeitsuchender EU-Bürger von Hartz-IV-Leistungen ist nach EU-Recht nicht zu beanstanden, hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits am 15. September 2015 nach einer Vorlage des BSG entschieden (AZ: C-67/14). Auch nach der EU-Freizügigkeitsrichtlinie dürften EU-Staaten Hilfeleistungen wie Hartz IV verweigern, wenn sonst die Sozialkassen übermäßig in Anspruch genommen werden, urteilte der EuGH.
Das Bundessozialgericht musste nun in den aktuellen Verfahren prüfen, ob die Kläger aus anderen Gründen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum und damit auf Sozialleistungen haben können. Einer der Kläger berief sich auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Anspruch von Flüchtlingen auf Asylbewerberleistungen. Die Karlsruher Richter hatten 2012 dabei entschieden, dass jedem Menschen, der sich in Deutschland aufhält, ein menschenwürdiges Existenzminimum zusteht (AZ: 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11). Dies müsse dann auch für EU-Bürger gelten, trug der Anwalt der Kläger, einer vierköpfigen rumänischen Familie, vor.
Laut Bundessozialgericht ergibt sich der Sozialhilfeanspruch auch aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen aus dem Jahr 1953, das die Vertragsstaaten des Europarates unterzeichnet haben. Danach können bei einem rechtmäßigen Aufenthalt Sozialleistungen beansprucht werden. (AZ: B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 44/15 R und B 4 AS 43/15 R)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften