Entbinden im Geburtshaus: Zur Geburt bei Freunden
Seit 1992 können Frauen in Hamburg-Ottensen in krankenhausferner Atmosphäre Kinder gebären. In Sorge sind aber auch die dortigen Hebammen wegen ihrer Versicherung. Jetzt soll es der Bund richten.
HAMBURG taz | Fanny Raus Bauch ist kugelrund. Die 29-Jährige ist in der 31. Woche schwanger und liegt auf einem Bett. Ihr kleiner Sohn Moritz krabbelt auf ihr herum, beansprucht Aufmerksamkeit. Aber jetzt gerade geht es um seine Mutter – beziehungsweise sein zukünftiges Geschwisterchen. Mit einem hölzernen Horchrohr hört Hebamme Lena Weiss die Herztöne des ungeborenen Babys ab. Vater Max sitzt auf einem Stuhl und beschäftigt sich mit einem Kinderspielzeug. Man duzt sich, es wird viel gelacht. Die Vorsorgeuntersuchung, die Rau nun jede zweite Woche hier im Hamburger Geburtshaus machen lässt, wirkt eher wie ein Besuch bei Freunden als wie ein medizinischer Besuch.
Fanny Rau ist bekennender Fan des Geburtshauses: „Hier kann man super Kinder kriegen“, sagt sie und spricht aus Erfahrung: Ihre beiden Kinder Frieda, 7, und Moritz, 2, hat sie hier zur Welt gebracht. Ohne Angst, ohne Komplikationen. „Man wird hier sehr sensibel behandelt und kann selbstbestimmt gebären.“ Sie grinst, als sie fortfährt: „Ich würde lieber fünf mal hier Kinder kriegen, als einmal zum Zahnarzt zu gehen.“ Sätze wie aus einem Werbeprospekt, aber man nimmt ihr das ab.
Bis vor zwei Jahren hat Lena Weiss noch als Hebamme in einem Krankenhaus gearbeitet, fast fünf Jahre lang. Das sei ein bisschen gewesen wie am Fließband: Zeitgleich war sie dort für bis zu drei Geburten zuständig. „Ich konnte mich nicht ausreichend und nach meinen Vorstellungen um die Frauen kümmern“, sagt die 29-Jährige. „Als ich das erste Mal eine außerklinische Geburt gesehen habe, war klar, dass ich das machen will.“
Seit Weiss im Geburtshaus arbeitet, hat sie mehr Zeit für die werdenden Mütter. Jede wird hier von einer Hebamme betreut, die sich nicht während der Geburt noch um andere Frauen kümmern muss. Eins-zu-eins-Betreuung. Zehn Hebammen arbeiten hier und versuchen, das ohne Hierarchie zu meistern.
Seit 1992 gibt es das Geburtshaus in einem Hinterhof im Stadtteil Ottensen. Früher war hier eine Autowerkstatt, heute hat die Linkspartei ein Büro nebenan und Menschen verrenken sich beim Yoga. Durch ein Treppenhaus, in dem die Namen zahlloser hier geborener Kinder an der Wand hängen, gelangt man in den ersten Stock. Vor der Tür heißt es Schuhe ausziehen. Kalte Füße drohen trotzdem nicht: Drinnen ist der Fußboden aus Kork. In einem großen Raum liegen Yoga-Matten, an der hellgrünen Wand hängen Schwarz-weiß-Fotos von Müttern und Babys. Hier finden die Geburtsvorbereitungskurse statt.
Konzipiert und gestaltet haben hier die Hebammen selbst, und mit einem Kreißsaal haben die Geburtsräume so gar nichts gemein: Da steht ein großes Bett, daneben ein Sessel für den Vater oder andere Begleiter. Ein paar medizinische Geräte warten in einer Ecke auf ihren Einsatz, auch Notfallmedikamente hält man vorrätig. Mitten im Raum steht ein spezieller Hocker, auf dem die Frauen gebären. Nach der Geburt haben die Eltern gemeinsam mit dem Neugeborenen noch ein paar Stunden Zeit, sich im Bett kennenzulernen, bevor sie nach Hause fahren.
Vor 22 Jahren war diese Art, ein Kind zu bekommen, etwas Neues. „Wir waren mit die Ersten“, sagt Geschäftsführerin und Mitbegründerin Britta Höpermann. „Es gab erst drei oder vier Geburtshäuser in der Bundesrepublik.“ Anfangs hätten die Krankenkassen nicht einmal die Kosten für eine Geburt hier übernommen. Bis zu 1.200 Mark haben die Frauen damals bezahlt, um im Geburtshaus ihr Kind zu bekommen.
Inzwischen tragen die Krankenkassen diese Kosten. „Das haben die Geburtshäuser, mit Unterstützung der Berufsverbände und der Frauen und Familien sich erkämpft“, sagt Höpermann. Kämpfen. Das ist etwas, das die Hebammen aus dem Geburtshaus immer wieder haben tun müssen. „Es gab immer Probleme“, sagt die 49-jährige Höpermann. Fast immer ging es um Geld und Anerkennung – im Jahr 2014 aber geht es um nicht weniger als die Existenz.
Denn die Hebammen im Geburtshaus sind Freiberuflerinnen, eine jede trägt unternehmerische Verantwortung. Und die freiberuflichen Hebammen in Deutschland machen sich gerade große Sorgen um ihre Zukunft: Die Versicherungen wollen die Prämien anheben, sodass die Geburtshelferinnen nicht mehr kostendeckend arbeiten könnten. Das Auslaufen der existierenden Versicherung bis Mitte kommenden Jahres könnten den Hebammen das Arbeiten komplett unmöglich machen, sagt Höpermann. „Dann wird es kein Geburtshaus mehr geben.“ Dann müssten Mütter ihr Kind im Krankenhaus zur Welt bringen – ob sie wollen oder nicht.
Dabei ist die Nachfrage nach Angeboten wie dem des Geburtshauses groß: Inzwischen sind hier 2.800 Kinder zur Welt gekommen. „Wir haben Wartelisten“, sagt Höpermann. „Jeden Monat können wir acht Frauen nicht annehmen.“ Eigentlich wollen die Hebammen Pläne schmieden, ihr Geburtshaus zu vergrößern. Aber wegen der unsicheren Zukunft verzichten sie zunächst darauf.
Im vergangenen Jahr kamen 168 Kinder im Ottenser Geburtshaus zur Welt – zu viele, um die Betreuung wie gewünscht sicherstellen zu können. Inzwischen hätten weniger Frauen die Möglichkeit, in Ottensen zu entbinden, kritisiert Höpermann: „In Hamburg ist die Wahlfreiheit des Geburtsortes und die Versorgung durch Hebammen zum Beispiel im Wochenbett nicht mehr sichergestellt. Es ist schon ziemlich dramatisch.“
Was allen hier wichtig ist: Es gehe nicht darum zu sagen, dass man sein Kind nicht in einem Krankenhaus zur Welt bringen soll. Auch die Hebammen, die zu Hause entbinden, machten einen guten Job: „Es geht nicht um gut oder schlecht“, sagt Höpermann. „Es geht uns um die Wahlfreiheit der Frauen.“ Jede werdende Mutter solle selbst entscheiden können. Dieses Recht ist sogar im Sozialgesetzbuch verankert, steht aber faktisch gerade auf der Kippe.
„Man raubt den Frauen ein Stück weit Emanzipation“, sagt die demnächst dreifache Mutter Fanny Rau. „Es hat sehr viel mit Selbstbestimmung zu tun.“ Sie selbst will sich dieses Recht nicht nehmen lassen und würde ein mögliches viertes Kind nicht im Krankenhaus bekommen wollen, sondern im Zweifelsfall lieber im eigenen Schlafzimmer: „Dann kommt es halt aus Versehen zu Hause auf die Welt.“
Dennoch: „Für manche Frauen ist es besser, ins Krankenhaus zu gehen“, sagt sogar die überzeugte Geburtshausanhängerin Rau. „Es kommt darauf an, wo man sich am wohlsten fühlt.“ Manchmal ist der Gang ins Krankenhaus ganz klar geboten, wenn es Anzeichen für Komplikationen bei der Geburt gibt und ein Arzt dabei sein sollte.
Und wenn es im Geburtshaus mal zu Komplikationen kommt? Dann fährt die betreuende Hebamme gemeinsam mit der Entbindenden in die nächstgelegene Klinik. Schon vorher melden die Frauen sich dort an, damit das Krankenhaus im Ernstfall vorbereitet ist. „20 Minuten nach dem Anruf sind wir da“, sagt Höpermann.
Bei jeder fünften Geburt gehen die Ottenser Hebammen lieber auf Nummer sicher. Zum Beispiel, wenn die Geburt sehr lange dauert oder Schmerzmittel benötigt werden. „Die Vorboten werden hier sehr ernst genommen“, sagt Höpermann. „Alle Voraussetzungen für eine Geburt im Geburtshaus müssen stimmen.“
Das Ende des Geburtshauses mag drohen, besiegelt aber ist es noch nicht: „Es herrscht noch keine Untergangsstimmung“, sagt Höpermann. „Wir wollen alles versuchen.“ Am vergangenen Freitag erst hat Bundesgesundheitsminister Herrmann Gröhe (CDU) einen Vorschlag gemacht, der die Hebammen aufatmen lassen könnte: Er plant, die Krankenkassen gesetzlich zu verpflichten, einen sogenannten Sicherstellungszuschlag zu zahlen – damit auch freie Hebammen mit nur wenigen Geburten die Kosten für die Versicherung bezahlen können. Britta Höpermann bleibt skeptisch: „Wir müssen das prüfen“, sagt sie. „Es könnte eine Lösung sein.“ Zumindest freut es sie, nach langer Zeit überhaupt wieder einmal etwas aus dem Ministerium zu hören. „Das bedeutet ja, dass sie sich damit beschäftigen.“
Das tut auch die Politik vor Ort, im Hamburger Bezirk Altona. Fraktionsübergreifend haben sich die Parteien für einen Erhalt des Geburtshauses ausgesprochen. Der Senat solle sich im Bund für eine politische Lösung des Versicherungsproblems einsetzen. Andernfalls wünscht man sich eine Lösung auf Landesebene.
Und aus Anlass des Welthebammentags am heutigen 5. Mai startet der Deutsche Hebammenverband (DHV) seine Kampagne „Meine Geburt: Natürlich – sicher“: Sie will allen Frauen und ihren Familien eine selbstbestimmte Geburt ermöglichen.
Und wenn das alles nicht reicht? Ans Aufgeben denken die Ottenser Hebammen jedenfalls nicht. „Wir werden“, verspricht Britta Höpermann, „nicht sang- und klanglos verschwinden.“
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