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England zieht ins EM-HalbfinaleElan, Elfmeterglück und Ekstase

Was für ein Spiel! Elf Gründe, weshalb die Partie England gegen Schweden auch dank der Skandinavierinnen einen Platz in jedem Fußballherzen verdient.

Laufduelle und harte Zweikämpfe: Englands Lauren James und Schwedens Filippa Angeldahl Foto: Bernadett Szabo/reuters

Das bis dahin spektakulärste Spiel der Europameisterschaft haben sich England und Schweden im Viertelfinale geliefert. Bis zur 79. Minute führten die Schwedinnen mit 2:0, dann egalisierte England das Spiel innerhalb weniger Minuten zum 2:2. In einem skurrilen Elfmeterschießen mit neun verschossenen oder gehaltenen Elfern rangen die Engländerinnen ihre Gegnerinnen schließlich nieder. Was für ein rauschhaftes Vergnügen. Elf Gründe, diese Partie zu lieben.

Vertikalität

Was manchem Team im eigenen Spielaufbau Sorgen bereitet, hatten die Schwedinnen bei diesem Turnier perfektioniert: die Vertikale. Gegen England war der Schnittstellenpass das Mittel der Wahl. Ein, zwei Ballkontakte, und die schwedischen Stürmerinnen rauschten uneinholbar davon. Das einst so pragmatische Schweden hat das Spektakel entdeckt – mit einer Stina Blackstenius in der Form ihres Lebens, die der englischen Defensive ein ums andere Mal die Knie schlottern ließ. In die Tiefe des Raumes, das spielte niemand so schön wie Schweden!

Mentalitätsmonster

Jürgen Klopp hat den Begriff vom Mentalitätsmonster einst geprägt, und England hat ganz genau zugehört. Eine ganze Halbzeit lang waren die Titelverteidigerinnen völlig überfordert, und auch danach sah es nicht so aus, als könnte dieser Abend noch ein Sweet Caroline bringen. Aber wieder erwiesen sich die Engländerinnen als womöglich resilienteste Elf im Turnier. Drei Minuten, zwei Flanken, zwei Treffer.

Intensität

Die Fußball der Frauen ist fairer und körperlich zurückhaltender? Solche frommen Annahmen haben England und Schweden Lügen gestraft. Die beiden Teams auf dem Rasen agierten mitreißend intensiv. Lauf­duelle über den halben Platz, Bodychecks, immer wieder auch Spielunterbrechungen wegen teils rüder Fouls. Kaum eine Minute Pause gönnte sich die Partie dabei, ständig wogte ein Angriff. Wer hier zwischendurch aufs Klo ging, die bestrafte das Leben.

Stoizismus

Sarina Wiegman ist nicht für große Gefühlsausbrüche bekannt. Mit säuerlich verbissener Miene verfolgt die gestrenge Fußballlehrerin die Partien ihrer Engländerinnen. Kein Rumpelstilzchen an der Linie, keine großen Gesten. Ebenso stoisch ist auch ihre taktische Linie. Sehr spät hat Wiegman erst mit Wechseln reagiert, für manche zu spät. Und alles richtig gemacht: Chloe Kelly kam, sah und schlug beide Flanken, die zu den Toren führten. Es lebe der Stoizismus.

Fehler

Es war ganz sicher nicht Perfektion, für die dieses Viertelfinale in Erinnerung bleibt. Teils haarsträubende Fehler ermöglichten erst das Spektakel. In der regulären Spielzeit gingen sie oft aufs Konto der englischen Defensive und allen voran der unglücklichen Jess Carter, die beide Tore mit verschuldete. Das Festival des Versagens aber entspann sich so recht erst im Elfmeterschießen. Acht der ersten zwölf Schützinnen scheiterten, neun verschossene Elfmeter sind EM-Rekord. Das Publikum lachte und litt, und England stolperte sich zum Sieg.

Zu hoch geflogen

Jennifer Falk hätte die Heldin des Abends werden müssen. Unglaubliche vier Elfmeter hat sie gehalten, was für eine Performance. Die Torhüterin, die den Großteil ihrer Nationalelfkarriere in der zweiten Reihe verbrachte, rückte mit glänzender Gesamtleistung am Donnerstagabend ins Rampenlicht. Aber ach, sie wollte zu hoch hinaus. Den potenziell letzten Elfmeter wollte Falk selbst machen, auch noch Doppelheldin sein – und schoss ihn hoch in die Wolken. Die tragische Figur, die jeder solche Abend braucht.

Frauhaft

Hannah Hampton hat die nicht beneidenswerte Aufgabe, die charismatische Mary Earps im Tor zu beerben. Und kann das. Die ruhigere, aber wahrscheinlich komplettere Torhüterin als Earps machte ein starkes Spiel und hielt, was zu halten war, inklusive zweier Elfmeter. Für die großen Bilder aber sorgte dabei ihre blutende Nase aus einem Zweikampf. Was für eine Unerschrockenheit!

Das Ende eines großen Abends: das englische Team setzt zum Jubelsprint nach dem vergebenen Elfmeter von Schweden an Foto: Sebastian Christoph Gollnow/dpa

Vorbildfigur

Es war wirklich nicht die beste Partie von der mittlerweile 33-jährigen Ikone Lucy Bronze. Aber als sie da sein musste, um ihren Engländerinnen den Arsch zu retten, war sie da. Es war Bronze, die mit einem wuchtigen Kopfball die Aufholjagd einleitete. Und es war Bronze, die mit bandagiertem Oberschenkel den entscheidenden Elfmeter ins Netz jagte. Auch abseits der Partie ist ihre Signalwirkung groß: Vor dem Turnier hat sie ihre Diagnosen ADHS und Autismus öffentlich gemacht. Viel gelobt wurde sie zu Recht für den Mut. Und wer ins Stadion geht, sieht verdammt viele Bronze-Fanplakate.

Augenhöhe

Wieder die berühmte Augenhöhe. Ähnlich wie beim Viertelfinale zwischen Italien und Norwegen trafen hier zwei Teams aufeinander, von denen jedes zu Recht hätte weiterkommen können. Das zeigt, wie viel sich getan hat im Vergleich zu vergangenen Turnieren. Ein Überteam gibt es nicht.

Solidarität

Keine Lobeshymne auf England – Schweden wäre komplett, ohne die jeweilige Anhängerschaft zu würdigen. Zwei riesige Fanlager waren mitgereist, oft kunstvoll kostümiert inklusive farblich passenden Nagellacks, die einander während der Partie dröhnend laut auf den Rängen duellertieren. Der Gesamtsieg ging an Schweden, der Plakatwunsch zweier Schwedinnen („ABBA > Beatles“) erfüllte sich allerdings sportlich nicht. Sehr viele junge weibliche Fans waren vor Ort, und das prägte die Atmosphäre auf besondere Weise. Keine Aggressivität, stattdessen ein oft solidarisches und gechilltes Miteinander. Im Zug auf der Rückfahrt entschuldigten sich englische Fans erst mal wortreich bei einer Schwedin für den Sieg. Wo gibt's das bitte im Männerfußball?

Letzigrund

Und was für eina Stadion, das den Rahmen für dieses Spiel bildete. Der Letzigrund in Zürich ist zwar ein Neubau, aber endlich mal keine immer gleiche Schachtel-Arena, die eng, steil und laut sein soll. Stattdessen ein weites Rund, eine nostalgische Holzvertäfelung an der Decke, Flutlichtmasten und eine klassische Tartanbahn. Hier fühlen sich Tra­di­tio­na­lis­t:in­nen wohl. Eine gute Bühne also für ein Spiel mit „Weißt du noch, als damals …?“-Potenzial.

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