Enge im Nahverkehr: Im Rhythmus der Masse
Wer in der S-Bahn unterwegs ist, darf Körperkontakt mit Fremden nicht scheuen. Die Züge sind oft überfüllt. Langzüge soll in Zukunft Abhilfe schaffen.
Inzwischen hat auch der zweite Junge sein Handy hervorgekramt, er hält es sich vors Gesicht, reißt Mund und Augen auf. „Geht es ihnen gut?“, krächzt die Oma quer durch den Zug. Die Jungs halten inne und lachen. „Snapchat“, sage ich und lächle entschuldigend. Nun, das war wenig hilfreich. Jetzt mustert die Oma mich von oben bis unten, verlässt schnell ihren Platz.
Am Dammtorbahnhof steigen die Jungs aus, ein ganzer Schwung Menschen kommt herein. Obwohl nun alle Plätze besetzt sind, ist es stiller als zuvor. Niemand sagt ein Wort, nur ein stetes Husten und Schniefen ist zu hören. Alle starren vor sich hin – aus dem Fenster, auf die Füße, ganz egal, Hauptsache ist, der Blick trifft nicht den des Gegenübers. Wobei: Dieses Risiko ist ohnehin gering, denn jeder Dritte spielt hochkonzentriert mit dem Handy herum.
Ein breiter Typ mit Glatze und Tribal-Tattoo am Hals schiebt mit zwei Fingern „Candy Crush“-Früchtchen hin und her, das stark geschminkte Mädchen neben mir, dessen Augenbrauen offenbar mit Edding aufgemalt wurden, scrollt durch die Facebook-Timeline. „Mama, warum sind da Zelte?“, fragt nun ein etwa Fünfjähriger in die Stille hinein und zeigt durchs Fenster auf die Lombardsbrücke, unter der Obdachlose schlafen. „Naja, Theodor, manche Leute wohnen in Häusern, so wie wir, andere wohnen eben lieber in Zelten!“ Als kurz darauf ein junger Mann mit den Worten „Entschuldigen Sie die Störung, ich bin obdachlos …“ einsteigt, verwickelt die Mutter den Sohn schnell in ein Gespräch.
Nächste Station: Hauptbahnhof. Beim Anblick der Menschentraube, die sich dort auf dem Bahngleis versammelt hat, rücken alle instinktiv ein Stück zusammen, atmen noch einmal ganz tief durch. Denn jetzt wird es voll. Sehr voll. Mit stoischer Gelassenheit schieben sich die nächsten Fahrgäste durch die Türen. Die Blicke sind leer, in den Gesichtern liegt die Müdigkeit nach einem langen Arbeitstag.
Ich stehe inzwischen, strategisch ungünstig, unter der Achselhöhle eines Mannes, der offenbar auch einen langen Tag hatte. Als wir kurz vor Hammerbrook auf voller Strecke anhalten, scheint das niemanden zu irritieren, die Stimmung ist entspannt. Oder resigniert? Denn man kennt das ja: Wer in der S-Bahn zwischen Harburg und Hauptbahnhof unterwegs ist, darf den Körperkontakt mit Fremden nicht scheuen.
Besonders am Morgen ist die Bahn so voll, dass man oft nicht einsteigen kann – und endlich versteht man, warum man in Japan Schaffner braucht, die Menschen in den Zug pressen. Also bewegt man eben so wenig wie möglich, denkt einfach nur an das nahende Ende der Fahrt.
Oder man hört zu – schließlich gerade auf diesem Streckenabschnitt sehr viele verschiedene Menschen unterwegs. „Staatsrecht ist ätzend, aber BGB lernen bockt echt“, sagt die Jura-Studentin hinter mir. ,,Bin aus Rumänien für Arbeit gekommen, aber auch nix besser hier als zu Hause“, sagt der Mann mit dem großen Wanderrucksack. Ein junger Somali zieht Fratzen für ein Baby im Kinderwagen, ein Bauarbeiter lässt eine Bierpulle aufploppen – Alkoholverbot hin oder her. Eine Frau mit Kopftuch fragt mich in gebrochenem Deutsch, ob das der Zug nach Harburg sei, in der Hand hält sie Behördenpapiere, an der anderen ein kleines Mädchen, das fasziniert und verängstigt zugleich umherblickt.
Als die Bahn auf der Veddel hält, wird es plötzlich hektisch. „Maan, macht doch mal Platz da vorne! Hier wollen Leute aussteigen“, schreit ein Mann von hinten über die Köpfe derjenigen, die den Gang zur Tür versperren. „Also mei, unglaublich, wie unfreundlich die Leute hier sind“, kommentiert eine Bayerin mit dickem Koffer, den sie ihrem Vordermann noch ein Stück weiter in die Kniekehlen drückt. Für mich endet die Fahrt hier. Alle gehen weiter ihren Gang – im eingespielten Rhythmus der Masse.
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