Engagement für Kinder: Ausflug in die andere Welt
Das Projekt "Neuköllner Talente" vermittelt Freizeitpaten an Kinder. Für beide Seiten ist der Austausch die Chance, das eigene Milieu zu verlassen.
Als Nicole Bittger an diesem Nachmittag ihr Büro in Mitte verlässt, fährt sie nicht nach Hause nach Prenzlauer Berg. Die junge Frau mit dem blonden Zopf fährt dahin, wo es, wie sie sagt, "ganz anders zugeht als in meiner gewohnten Umgebung". Bittger steigt am U-Bahnhof Hermannstraße aus, umschifft routiniert Urinlachen und Scherben und steuert eine Straße voller Mietskasernen an. Ganz hinten, in einem schmutzig gelben Haus wohnt Ahmed S. "Bitte vorsichtig laufen", warnt Bittger im Treppenhaus. Auf den Stufen liegt Müll, der Aufzug ist kaputt, zwischen zweiter und dritter Etage gibt es kein Licht. Durch eine zerbrochene Glasscheibe pfeift der Wind. Im vierten Stock hält Bittger an, klopft und sagt noch mal: "Wie gesagt, anders, als man das sonst so kennt." Eine Frau schiebt den Kopf durch den Türspalt, sagt "Hallo" und verschwindet in einem der Zimmer. Zwei Mädchen im Teeniealter übernehmen. Sie strecken ihre Hände aus, sagen: "Kommt rein!", und scheuchen Ahmed aus dem Bad. Der Achtjährige hüpft strahlend auf Nicole zu und beginnt zu reden, während ihn seine Schwestern in Winterklamotten stecken und mit einem Klaps zur Tür hinausbefördern. "Kommt ruhig spät, er ist ja in guten Händen", sagt eine mütterlich.
Draußen, auf dem Weg zur U-Bahn, erzählt der Viertklässler ohne Pause. Von einem Preis, den er in der Schule gewonnen hat, von einer Handverletzung, von Fernsehsendungen. "Am Anfang ist das immer so", lacht Bittger. "Da muss er erst seine Woche loswerden." Die 25-Jährige, die selbst mit einem jüngeren Bruder aufgewachsen ist, und der Viertklässler aus Neukölln treffen sich seit fast einem Jahr jede Woche, um gemeinsam etwas zu unternehmen: Kino, Zoo, Bowling, Kindermuseum. Zusammengebracht hat sie das Projekt "Neuköllner Talente" der Bürgerstiftung Neukölln, das 8- bis 12-Jährige aus dem Bezirk mit erwachsenen "Talentpaten" aus ganz Berlin zusammenbringt. Ziel des 2006 begonnenen Vorhabens ist es, Grundschülern aus sozial benachteiligten Familien Ansprechpartner außerhalb ihres Milieus zu vermitteln.
Um Nachhilfe oder andere Förderung soll es dabei bewusst nicht gehen. "Jedes Kind hat Talente und Interessen", sagt Projektleiterin Idil Efe. Die Paten sollen ihnen helfen, diese zu entdecken und zu vertiefen: bei Stadterkundungen, im Sportverein oder beim gemeinsamen Basteln. Für solche Extraunternehmungen nach der Schule fehlt es vielen Eltern an Zeit, Geld oder Zugang. "Viele Eltern wissen sehr wohl, was sie ihrem Kind alles nicht bieten können - und wollen das beheben. Dafür sind wir da", sagt Efe. 109 Patenschaften hat das Projekt bisher vermittelt. Die Paten erhalten im Gegenzug Einblick in ihnen unbekannte Lebenswelten. Und eine Freundschaft mit einem Kind, die recht innig werden kann.
So wie bei Nicole und Ahmed. Der fordert jetzt von Nicole: "Wenn das heute nicht toll wird, kochst du mir einen Riesentopf Kartoffelbrei" - sein Lieblingsessen. Was den Märchenabend in der Tadschikischen Teestube in Mitte angeht, zu dem die beiden fahren, ist Ahmed skeptisch. Auch den Besuch auf dem Fernsehturm letzte Woche fand er "ein bisschen doof - voll viele Wolken". Die Patin, die für den Sightseeingtermin fast anderthalb Stunden reine Fahrtzeit in Kauf genommen hat, lächelt tapfer. Und erzählt von der Fahrt in den Zoo, auf der Ahmed sie die ganze Zeit mit Verachtung strafte - weil seine Schwester nicht mitdurfte. Das aber ist gegen die Regeln: Die Patenschaft gilt nur für ein Kind, andere Familienmitglieder müssen bei den Unternehmungen zu Hause bleiben.
Dass die Patenschaften auf verbindlichen Regeln basieren, ist einer der Gründe, warum sie sich vor einem Jahr zur Teilnahme an dem Projekt entschlossen hat. Auf der Suche nach einer gesellschaftlich sinnvollen Aufgabe überzeugten sie der professionelle Internetauftritt des Projekts und die sorgfältige Organisation. Ein Führungszeugnis musste sie vorlegen, einen Fragebogen ausfüllen und zum Interview erscheinen. Erst dann durfte Nicole Bittger an einem Treffen mit Eltern, Kindern und andern potenziellen Paten teilnehmen, auf dem ihr Ahmed gleich sympathisch war. Eine Voraussetzung war auch das Vertrauen der Familie S.; schließlich zählt der zu Projektbeginn noch Siebenjährige, dessen ältere Schwester schon an dem Projekt teilgenommen hatte, zu den Jüngsten. "Die Eltern haben mir nur eine Auflage gemacht: kein Schweinefleisch", erzählt Bittger.
Im tadschikischen Teehaus wählt sie darum zusammen mit Ahmed ein Schafskäsesandwich aus und einen exotischen Früchtetee. Im Schneidersitz auf den buntbestickten Sitzkissen lagernd und mit vollen Backen kauend, wirkt der Junge rundum zufrieden. Auf die Märchenlesung "Dr. Dolittle im Land der Indianer" freut er sich. Nicole aber macht sich ein bisschen Sorgen, ob der fernsehgewohnte Junge 70 Minuten Lesung ohne schnelle Schnitte und Kostümwechsel aushält. Zu Hause bei Ahmed laufe der Fernseher den ganzen Tag - weil die Wohnung eng sei und die Eltern wenig Zeit hätten, dürfe jeder alles gucken. Trotzdem hat Nicole keinen Zweifel: "Ahmed ist ein glückliches Kind, auch wenn die Rahmenbedingungen nicht so toll sind."
Projektleiterin Idil Efe findet es besonders wichtig, Brücken zwischen Milieus zu bauen, die normalerweise nur über die Medien voneinander erfahren. Die meisten Eltern, die am "Talente"-Projekt teilnehmen, sind Migranten, aber auch einige deutsche Familien sind dabei. Die Paten sind überwiegend junge Leute zwischen 20 und 30 Jahren, viele studieren; an den Unis wirbt das Projekt gezielt um Teilnehmer. "Manche Familien hatten zum ersten Mal einen Akademiker zu Besuch. Und einige Studierende erlebten den ersten Kontakt mit einer türkischen Familie", sagt Efe.
Dass der gegenseitige Respekt gewahrt bleibt, darüber wacht das komplexe Regelwerk des Projekts: Paten dürfen sich nicht in die Erziehung einmischen, sie müssen Vorgaben der Eltern respektieren - etwa wenn ein Mädchen nicht mit einem männlichen Paten schwimmen gehen darf. Die Familien dürfen "ihren" Paten nicht für Hausaufgabenhilfe oder als Babysitter missbrauchen. Auch das Zeitliche und das Finanzielle sind streng geregelt: Zwei bis drei Stunden müssen die Paten pro Woche aufwenden, kurzfristige Absagen sind tabu. Pro Monat bekommen die Familien der Kinder 20 Euro für Fahrtkosten und Eintrittsgelder, den Rest bezahlen die Paten aus eigener Tasche. Mit dem engen Budgetrahmen wolle man auch zur Kreativität erziehen, sagt Efe: "Es ist eine Herausforderung, einen Tag mit wenig Geld zu gestalten, aber für die Kinder ist es näher an ihrer Lebensrealität."
Ahmeds und Nicoles Märchenabend in Mitte wird am Ende schließlich rund 30 Euro gekostet haben, plus Fahrtkosten. Dafür sind andere Termine wie das gemeinsame Kochen, eine Teilnahme am Judokindertraining oder eine Führung in der Bonbonmacherei deutlich billiger. Angst, dass ihr die Ideen ausgehen, hat Nicole Bittger nicht: "Ahmed ist so neugierig und hat so vieles noch nicht gesehen, mit dem entdecke ich die Stadt neu", sagt sie.
Nur die Zeit für weitere Termine könnte knapp werden: Nach einem Jahr soll die Patenschaft enden. Damit möglichst viele Neuköllner Kinder in den Genuss des von der "Aktion Mensch" geförderten Projekts kommen, ist keine Verlängerung vorgesehen. Dass sie sich aus den Augen verlieren, kann sich Bittger trotzdem nicht vorstellen: "Einen kleinen Bruder gibt man ja nicht einfach wieder ab", sagt sie. Und schiebt Ahmed ihren Keks rüber.
Das Projekt sucht noch Paten Infos:
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft