Endstation Kulanz


aus Düsseldorf und Essen HEIKE HAARHOFF

18. Juni 2002. Deutschland schwitzt wie zuletzt vor 100 Jahren. Um 16.55 Uhr verlässt der „Wupper-Express“ den Düsseldorfer Hauptbahnhof in Richtung Aachen. Darin: Pendler im Berufsverkehr. Die Klimaanlage ist ausgefallen, kein Fenster zu öffnen. Kurz vor Mönchengladbach stoppt der Zug. Signalstörung. 20 Minuten Halt auf offener Strecke in der prallen Sonne. 63 Grad misst die Armbanduhr eines Mitreisenden. Eine Frau kollabiert. Der Schaffner ist nicht in Sicht, die Sprechanlage defekt. Über Handy informieren Fahrgäste den Bundesgrenzschutz.

Düsseldorf, Wochen danach. Vom Büro der Verbraucherzentrale guckt Christian Schirmer direkt auf den Hauptbahnhof. Es gibt schönere Aussichten auf die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt, aber Christian Schirmer ist mit seiner zufrieden. So hat der Chef der neuen Abteilung „Schlichtungsstelle Nahverkehr“ wenigstens die Motivation für seinen Job immer vor Augen. In seinen Worten heißt die: „Fahrgäste in Deutschland sind ein rechtloses Transportgut.“

10. Juli 2002. Deutsche Bahn AG Essen, Regionaler Kundendialog Personenverkehr. Ein Brief verlässt das Haus. Sein Adressat: die Schlichtungsstelle Nahverkehr in Düsseldorf. „… sehen wir keine Möglichkeit, ein Schmerzensgeld zu zahlen … erbrachte die Klimaanlage zwar nur verminderte Kühlleistung … keine Veranlassung, die Wagen auszusetzen … nicht abzusehen, dass sich die Außentemperaturen ins Unerträgliche steigern … als kleine Geste des Ausgleichs … Reisegutscheine im Wert von 50 Euro … i. A. Karin Montag“.

Verspätungen, Zugausfälle, Servicemängel: Wer unter der Deutschen Bahn leidet, hat bisher keine gesetzlichen Ansprüche auf Schadensersatz. Das will die rot-grüne Mehrheit im Bundestag ändern, allerdings wird es noch dauern, bis ein neues Gesetz beschlossen ist (siehe Kasten).

Düsseldorf. Christian Schirmer nennt sich „Revolutionär“, in weniger euphorischen Momenten „Fahrgastanwalt“, in jedem Fall aber will der Schlichter das System verändern. Durch verbindliche Regeln, vielleicht durch Gesetze. Er arbeitet daran. Die Schlichtungsstelle in Düsseldorf ist bundesweit einmalig. Im September 2001 wurde sie mit Fördermitteln des Landes Nordrhein-Westfalen eingerichtet, um als unabhängige Instanz zwischen immer unzufriedeneren Nutzern des öffentlichen Personennahverkehrs, dem Gesetzgeber und den 80 Verkehrsunternehmen in NRW zu vermitteln. Mehr als drei Viertel aller Beschwerden richten sich gegen ein einziges Unternehmen: die Deutsche Bahn. Rechtlich gesehen kann ihr die Schlichtungsstelle der Verbraucherzentrale egal sein.

Starke Nerven, gute Kollegen

Essen. „Für uns ist der Fall erledigt.“ Karin Montag ist eine resolute Frau, die gern und geduldig erklärt, solange Debatten Sinn haben. Die um den überhitzten Wupper-Express hat keinen mehr, findet sie. Die Rechtsabteilung habe alle Einwände geprüft und abschlägig beschieden. Reisegutscheine seien schon ein Entgegenkommen. „Es ist ja nicht so, dass wir nicht kulant wären“, sagt Karin Montag, und dann: „Aber was Kulanz ist, bestimmen immer noch wir selbst und nicht Dritte. Schon gar nicht die Verbraucherzentrale.“

45 Jahre ist Karin Montag alt, im nächsten Jahr wird sie ihr 30-jähriges Dienstjubiläum bei der Bahn feiern. Sie hat alle Reformen und Umstrukturierungen mitgemacht, die das Unternehmen in den vergangenen drei Jahrzehnten zu bieten hatte, und wenn sie daraus etwas gelernt hat, dann das: „Um hier zu bestehen, braucht man starke Nerven und gute Kollegen.“ Beides habe sie, sagt Karin Montag, 9,5 feste Kräfte und 1,5 Aushilfen arbeiten beim „Regionalen Kundendialog Personenverkehr“ in Essen und verwahren sich dagegen, zur „Beschwerdestelle“ degradiert zu werden, „wir bekommen hier Eingaben“. 5.000 sind es im Monatsmittel, die meisten per E-Mail, die wenigsten persönlich; hochgerechnet auf die 27 Millionen Fahrgäste in den beiden größten nordrhein-westfälischen Ballungsregionen Rhein-Ruhr und Rheinland, für die die Essener Ansprechpartner sind, eine nicht so beeindruckende Zahl. Warum dann die Beantwortung einer Eingabe zwei bis vier Wochen dauert? „Über Transport- und Betriebsleitung und über das Bahnhofsmanagement müssen wir ja erst mal klären, was überhaupt passiert ist“, sagt Karin Montag und fügt hinzu, als habe das jemand angezweifelt: „Auch wir wollen zufriedene Kunden.“ Je nach Unannehmlichkeit für den Fahrgast würden beträchtliche Summen auf dem Kulanzweg und in Form von Reisegutscheinen gezahlt. Aber ein verbindliches Regelwerk, eine berechenbare, transparente Handhabung von Erstattungsklassen, wie sie die Düsseldorfer Schlichtungsstelle fordert? „Dafür ist jeder Fall zu verschieden. Das ist nicht machbar.“

Diplomatie auf kleinster Flamme

Düsseldorf. Nicht machbar, nicht zuständig, nicht möglich. Es gibt Vokabeln, auf die reagiert Christian Schirmer allergisch, und viele davon, sagt er, höre er regelmäßig aus Essen. „Unsere Zusammenarbeit kocht auf kleinster diplomatischer Flamme.“ Das liegt weniger daran, dass das Bahn-Beschwerdeteam aus Essen sich von den Düsseldorfer Fahrgast-Lobbyisten auf den Schlips getreten fühlte: Streng genommen könnten die Essener die Düsseldorfer glattweg ignorieren; es gibt keine gesetzliche Grundlage, die die beiden Stellen zur Kooperation verpflichtet. Christian Schirmer weiß das. „Zu uns kommen viele Fahrgäste, die bei der Bahn mit ihren Beschwerden gescheitert sind“, sagt er. 1.300 waren es im ersten Dreivierteljahr, so viele wie bei der Bahn in Essen jede Woche. „Die unterstellen uns: Ach ja, zu euch kommen ja nur die Querulanten“, sagt Christian Schirmer. Auch dass er Karin Montag und ihre Kollegen persönlich kennen lernte, habe das Verhältnis nicht verbessert.

Das größte Hindernis für eine fruchtbare Kommunikation sind die unterschiedlichen Denkmuster. Der Schlichter aus Düsseldorf will Verbindlichkeiten: statt punktueller Kulanz eine allgemeine Ankommgarantie. Statt individueller Reisegutscheine eine berechenbare Tabellenkalkulation: x Minuten Verspätung ergibt y Euro Kostenerstattung. Zugausfall aus Grund y ergibt z Euro Kompensierung. Und so weiter. Christian Schirmer und seine Kollegen haben bereits eine erste Schlichtungstabelle mit konkreten Zahlen erstellt, ohne Anspruch auf Umsetzung, versteht sich. Aber wenn eine Verbraucherzentrale an die Öffentlichkeit geht, erzeugt das immer Druck. „Wir sagen nicht, die Bahn darf nie wieder unpünktlich sein“, sagt er. „Aber es muss ein Qualitäts- und ein Verspätungsmanagement geben.“

Oktober 2001 bis Mai 2002: Herr M. aus Essen muss 60 Mark Strafe und einen 1.-Klasse-Zuschlag bezahlen, weil er im Regionalexpress nach Hamm das WC der ersten Klasse benutzt hat. Er gibt an, die Toilette der zweiten Klasse sei dreckig gewesen. Die Düsseldorfer Schlichter handeln die Strafe auf 30 Mark herunter. Immer wieder verpasst Frau N. aus Troisdorf wegen verspäteter Züge ihre letzte Busverbindung nach Hause. Die Taxikosten bekommt sie erst zurück, als sich die Verbraucherzentrale einschaltet. Eine Hörfunkredakteurin beklagt häufige Verspätungen auf der Strecke Mönchengladbach–Köln. Eine kaufmännische Angestellte beschwert sich über unzuverlässige Anschlusszüge am Kölner Hauptbahnhof. Ein Bahnkunde aus Duisburg sammelt 50 Unterschriften für mehr Zuverlässigkeit auf der Strecke Xanten–Rumeln–Duisburg. Eine Rollstuhlfahrerin kann den Bochumer Hauptbahnhof bei ihrer Ankunft kurz nach 22 Uhr nicht verlassen, weil das Servicepersonal behinderten Kunden dort nur bis 21.30 Uhr mit dem Gepäckaufzug auf den Bahnsteig hilft. Die Bahn entschuldigt sich in allen Fällen, nachdem die Schlichtungsstelle sich eingemischt hat.

Die Durchsage erübrigt sich

Essen. Karin Montag sagt: „Die Zweigleisigkeit der Beschwerdeinstanzen ist nicht nötig, aber so ist es eben.“ Denn was bringe es, wenn die Schlichtungsstelle ebenfalls Mängel anprangere? „Geld, um Kulanz walten zu lassen, haben die doch nicht in Düsseldorf.“ Geld haben die in Essen. Manchmal. Aber öfter haben sie Erklärungen, warum es eben im konkreten Einzelfall leider nicht fließen kann. Zwei Stunden Verspätung, und trotzdem keine Entschädigung? „Erst mal müssen wir klären, ob Fremdverschulden oder höhere Gewalt vorliegt.“ Den Anschlusszug knapp verpasst? „Wer nur fünf Minuten zum Umsteigen einplant, der hat nicht gut geplant.“ Keine Gleisdurchsagen über umgeleitete Züge? „In der Regel sprechen die Fahrgäste die Mitarbeiter der Bahn selbst an, dann erübrigt sich die Durchsage.“ Keine Information über Taxigutscheine, wenn der letzte Anschluss weg ist? „Das erfahren unsere Kunden, wenn sie am Servicepoint nachfragen.“ Die S-Bahn im Berufsverkehr völlig überfüllt? „S-Bahnen fahren im Verbund. Da können Sie nicht einfach zu Spitzenzeiten einen Waggon dranhängen.“ Unfreundliche Kundenschreiben? „Wir verwenden Textbausteine. Tarif ist Tarif. Da können wir nicht mehr Worte draufschreiben, nur weil es netter klingt.“

Düsseldorf/Berlin. Christian Schirmer mag seinen Traum von der Kundenfreundlichkeitsrevolution nicht aufgeben. Ein bisschen Zeit hat er noch: Seine Arbeit und die seiner Kollegen, 3,75 Stellen, ist zunächst befristet bis März 2003. Ist die Bilanz positiv, soll es unabhängige ÖPNV-Schlichtungsstellen nach Düsseldorfer Vorbild demnächst bundesweit geben, dann allerdings gesetzlich verankert. Das Verkehrsministerium in Berlin prüft derzeit, ob die Kulturrevolution bei der Bahn machbar ist.