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Endlich Frieden?Als könne ein endloser Tag enden

Ist der Frieden in Gaza wirklich da? Bleibt er? Noch sind die Geiseln nicht befreit, aber die Hoffnung ist konkret. Klar ist: Wir wollen leben!

Menschen feiern auf dem „Platz der Geiseln“, nach der Bekanntgabe der ersten Phase einer Waffenruhe am 9. Oktober in Tel Aviv Foto: Shir Torem/reuters

E s gäbe jetzt die folgende Möglichkeit für diese Kolumne, dachte ich an einem Nachmittag Anfang Oktober, kurz nachdem in Manchester ein Anschlag vor einer Synagoge verübt worden war: davon schreiben, wie wütend ich bin, schockiert, traurig, ja, verängstigt?

Aber schauen Sie, es ist ja so: Das wäre die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung. Eine wiederkehrende Chronik sozusagen. Irgendwo werden Juden ermordet. Und in den Zeitungen steht später, wie schockiert die jüdischen Communitys seien. Wie ängstlich. Ja, wie viel Angst denn eigentlich noch?

Es ließe sich aufzählen, an welchen Orten der Welt am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, Terroranschläge verübt wurden. Oder an welchen Feiertagen fernab von Jom Kippur. Oder an welchen ganz gewöhnlichen Tagen. Die Liste wäre schier unendlich. Auf den Anschlag von Manchester folgte der zweite Jahrestag des 7. Oktober, dem bestialischen Massaker der Hamas in Israel. Ich war nicht in Berlin an diesem Tag, sondern in New York. Und ich war froh darüber. Weg. Etwas zu tun haben. Weg aus dem eigenen Alltag.

Ich schaute nochmal nach, was ich damals kurz nach dem 7. Oktober geschrieben hatte: „Wir werden leben“, stand da. „Am Israel Chai.“ Ja, wir werden leben, dachte ich jetzt, aber so viele von uns eben auch nicht. So viele wurden ermordet, einfach nur, weil sie Juden waren. Weil Antisemiten, weil Terroristen sie auslöschen wollten. Damals ahnte ich noch nicht, welche Gewalt freigesetzt werden würde, wie hemmungslos Menschen Terror bejubeln und die Auslöschung von Juden, eine Welt ohne uns fordern könnten.

Keine Überraschung

In New York sprach ich mit C. Sie ist Jüdin und lesbisch. Hier in der Stadt habe sie immer in einer Blase gelebt, sagte sie. Doch zum ersten Mal seit langem müsse sie Angst haben, weil sie jüdisch sei. Ich stieg in die U-Bahn. Eine Frau hatte ihr Palituch lässig um die Schultern gebunden. Ob sie von der Demo in Manhattan kam, bei der Parolen wie „There is only one solution, Intifada Revolution“ auf Schildern hochgehalten wurden? Später, im Park, entdeckte ich, wie jemand präzise eine antisemitische Verschwörung auf einem Mülleimer formuliert hatte. Eine richtige Erzählung.

In Berlin hielten Aktivisten ein riesiges Banner hoch: „Glory to the fighters“. Ich war nicht überrascht. Dass solche Parolen von einem breiten Teil der Propalästina-Szene getragen werden, ohne Widerworte – das versuche ich seit zwei Jahren deutlich zu machen.

„Ich denke in Szenen und Momenten, nicht wie sonst in Lebensjahren“, schreibt Marina Chernivsky in ihrem Buch „Bruchzeiten“ über ihr Zeitempfinden seit dem Massaker. An diesem Satz blieb ich hängen. Zum ersten Mal verstand ich, wie mir seit dem 7. Oktober 2023 die Zeiten durcheinander geraten. War das vor einem Jahr? Schon zwei?, Das höre ich mich manchmal sagen.

Manchmal versuche ich zu rekapitulieren, was ich seit dem 7. Oktober getan habe. Es gelingt kaum. Dann erinnert mich mein Umfeld daran, ich schlucke. Trotz Dunkelheit, Hass, Trauma – ich lebe, bin an der Oberfläche.

Ich dachte dann immer an die israelischen Geiseln, die befreiten und die verbliebenen, die ermordeten, die Tage, Monate, Jahre in den Tunneln der Terroristen verloren haben. Unwiederbringlich. Und jetzt, da ihre Freilassung offenbar unmittelbar bevorsteht, fühlt es sich an, als könne ein endloser Tag endlich enden – und doch bleibt es unwirklich. Eine Freude, getränkt mit dem Gefühl, dass sie längst überfällig ist.

Stimmt er also, der Satz? Wir werden leben. Vielleicht würde ich ihn heute anders formulieren, nur für mich sprechen. Wenn ich eines verstanden habe, dann dies: Ich entscheide mich für das Leben. Gerade weil ich mir der Abgründe und Katastrophen bewusst bin. Erst recht möchte ich leben.

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Erica Zingher
Autorin und Kolumnistin
Beschäftigt sich mit Antisemitismus, jüdischem Leben, postsowjetischer Migration sowie Osteuropa und Israel. Kolumnistin der "Grauzone" bei tazzwei. Freie Podcasterin und Moderatorin. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber.
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