BERLINER PLATTENTIPS: Empfängnishilfe
■ Die Seuche — »Pächter des Wahnsinns«/ Marda/Miller — »Extruder«
Die neue Mini-LP von „Die Seuche“ ist schon ein paar Monate auf dem Markt, muß aber hier noch gewürdigt werden. Nach ihrem Debüt-Album haben sie die zweite Veröffentlichung, Pächter des Wahnsinns (AGR/SPV), sehr schnell nachgeschoben. Dies war möglich, weil nur die erste Seite neues Material enthält. Auf der B-Seite sind fünf alte Songs zusammengestellt, die bei einem Live-Konzert in der Hasenheide aufgenommen wurden. Nun mutet es einigermaßen überheblich an, wenn eine frische Band gleich auf ihrer zweiten Platte Songs verbrät, die alle kurz zuvor erschienen sind, und damit den Trend des Best-of-live-Albums für ihre Fans mitträgt.
Im Fall der „Seuche“ hat das sicherlich den Grund, daß sie einen Ausschnitt ihres Konzerts zusammen mit den legendären „Slime“ für die Nachwelt festhalten wollten. Unter dem Kult-Aspekt ist dieses Vorgehen verständlich, auch wenn ihre Songs live, außer daß sie sehr druckvoll gespielt werden, keine Besonderheiten aufweisen. Zudem ist der typische PA-Mix, auf dem das Schlagzeug zu laut und die Gitarren sehr im Hintergrund zu hören sind, sehr unausgewogen im Sound. So bleibt diese Plattenseite zwiespältig. Was das Werk aber lohnend macht, sind eben die vier neuen Stücke, mit denen sich die Band deutlich gesteigert hat. Natürlich spielt „Die Seuche“ weiterhin bewährt straight nach vorne, hat aber doch einige Überraschungen in Form von Breaks und Soundvarianten in den Songs untergebracht. Ganz köstlich ist schon das Intro zum Titelsong Pächter des Wahnsinns, wo sich eine düster gezupfte Gitarre mit plötzlichen, verzerrten Prügelausbrüchen in schneller Folge abwechselt. Hier treten die Metal- Einflüsse deutlich zutage, die überhaupt auf allen neuen Songs klarer vom Punk getrennt erscheinen. Textlich geht es wieder um extremes körperliches Unwohlsein angesichts der kaputten Zustände in diesem unserem Lande. Was den Kopf schädigt, schlägt auch auf den Magen; so müssen sich auch die Bürger der fünf neuen Länder einigermaßen schlecht fühlen, denen „Die Seuche“ zugesteht, »angeschissen« worden zu sein. Andererseits wollten viele dieses System auch so schnell wie möglich. Die Situation ist eindeutig verfahren, und „Die Seuche“ ist weit davon entfernt, mit erhobenem Zeigefinger anzuklagen oder Mitleidsgefühle zu verbreiten. Sie sind eher Zustandsbeschreiber der Krankheit ohne Ahnung von der Therapie. Für sie selbst scheint sie in ihrer aggressiven Musik zu liegen, die auf Pächter des Wahnsinns ihre Eindringlichkeit unter Beweis stellt. Als EP mit vier Stücken wäre sie ein kleines Meisterwerk, als Debüt ein schwer zu übertreffender Maßstab, denn für sich genommen sind auch die Live- Songs überzeugend.
Nur eine Vier-Track-EP hat das Berliner Duo „Marda/Miller“ vorgelegt, die schon durch sämtliche Folk- und Jazzclubs der Stadt gezogen sind. Diese Platte muß deutlich von der obigen abgegrenzt werden, denn nichts liegt den hier werkelnden Gitarristen Martin Motsch und Gerard Arendt ferner als wüster Punk, und dann noch mit Metal-Einschlag. Auf der Maxi Extruder (Eigenprodukt) sind instrumentale Songs zu hören, die für meine nur fragmentarisch jazzgeschulten Ohren irgendwo zwischen Kolbe und Illenberger — den ehemaligen 2001-Folk-Stars mit Hang zum modernen Jazz — und den melancholischen Melodien von Pat Metheny angesiedelt sind. Gezupfterweise plätschern die Stücke angenehm unaufregend dahin. Akustische und elektrische Gitarre im Ziwegespräch sind unterlegt mit vorsichtiger Percussion und sparsam eingestreuten Keyboard-Sounds, die für mehr Modernität sorgen sollen. Nur einmal kommen „Marda/Miller“ etwas aus sich heraus und lassen eine verzerrtes Solo kurz aufbegehren. Aber dann ist wieder Ruhe. Extruder ist Sonntagnachmittagsmusik, wie geschaffen für die wärmer werdende Frühlingssonne, die blühende Bäume und singende Vögel bescheint. Zumindest weckt sie romatische Gefühle und Vorstellungen von tiefsinnigen Spaziergängen und im kühlen Wasser baumelnden Beinen. Wahrscheinlich werden die Jungs dies als Banalität von sich weisen, aber trivial-träumersich zu wirken ist auch eine Qualität. Schwalbe
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