Elisenlebkuchen: Voll auf die Nuss
Der Elisenlebkuchen folgt einem strengen Regelwerk. Doch wieso schmeckt jedes Exemplar etwas anders? Eine kulinarische Reise nach Mittelfranken.
Und dann, wir stehen gerade am Kaffeetresen in der Verkaufsstube und trinken einen Espresso, sagt Arnd Erbel: „Wenn du möchtest, dass die Männer ein Boot bauen, dann lehre sie nicht das Zimmererhandwerk, sondern die Sehnsucht nach dem Meer.
Dem Zimmerer ist nämlich herzlich wurscht, ob das Boot untergeht.“ Und nach einer kurzen Pause schiebt er nach: „Wenn du möchtest, dass jemand gutes Brot bäckt, dann lehre ihn nicht das Bäckerhandwerk, sondern was ein gutes Brot ist. Wir wollen Geschmack. Das ist unser bedingungsloser Wunsch.“
Wie bestellt, schielen in dieser Sekunde zwei Kund:innen Richtung Tresen. Erbel hat nämlich einen Panettone und eine frisch gebackene Engadiner Nusstorte angeschnitten. „Nehmt euch a wengala was, damit euer Blutzuckerspiegel ned in den Keller fällt“, ruft er im breitesten Fränkisch. Die beiden lassen sich nicht zweimal bitten.
Elisenlebkuchen müssen aus mindestens 25 Prozent Nüssen bestehen
Ich möchte den Ort kennenlernen, an dem der Lebkuchen gebacken wird, den ich für den besten der Welt halte. Entdeckt habe ich ihn im Berliner Feinkostladen Goldhahn & Sampson, man kann ihn aber auch im Internet bestellen. Er wird in der Bäckerei Erbel in Dachsbach gebacken, 30 Kilometer nordwestlich von Nürnberg. Von dort muss man die Regionalbahn nach Neustadt an der Aisch nehmen, und wenn man wie ich Glück hat, wartet dann schon Arnd Erbel mit seinem alten Peugeot 204 am Bahnhof.
Sein Lebkuchen besitzt eine angenehme Konsistenz. Nicht pappig ist er, beinahe leicht. Die Haselnuss schlägt den Hauptakkord an, dazu kommen verschiedene Gewürze. Er schmeckt sowohl mit Zucker- als auch mit Schokoglasur noch nach Lebkuchen.
Und, wichtig: Es handelt sich um einen sogenannten Elisenlebkuchen – die Königsklasse des Backwerks. Sie müssen zu mindestens 25 Prozent aus Nüssen bestehen; Mehl darf laut Deutschem Lebensmittelbuch höchstens 10 Prozent der Gesamtmenge ausmachen.
Warum gibt es bei so einem strammen Regelwerk so große Unterschiede im Geschmack? Mehr dazu später, zunächst müssen wir auf Arnd Erbels bedingungslosen Wunsch – Geschmack – zurückkommen und auf die Beharrlichkeit, mit der Erbel diesen in seine Handlungen übersetzt. Er leitet die 1680 gegründete Bäckerei seit 25 Jahren.
Er nennt sich Freibäcker, weil er eher ungern Regeln befolgt. Bei seinen Produkten verzichtet er auf die weit verbreiteten Backmischungen und auch auf industrielle Hefe, stattdessen setzt er auf eine langsame Teigführung mit eigenem Sauerteig und regionalen Mehlen.
Rasch bildete sich um seine Brote ein Hype. 2023 wurde er vom Feinschmecker als bester Bäcker Bayerns ausgezeichnet. Der Feinkosthändler Dallmayr verkauft sein Brot in München, in Berlin liegt es auf dem Frühstücksbuffet des Hotels Orania aus. Die Elisenlebkuchen räumen bei den einschlägigen Tests ebenfalls regelmäßig ab. Seit einigen Jahren ist Erbel zudem Bayernbotschafter und vertritt den Freistaat auf den Kanälen des Tourismusverbandes.
Auch auf dem Land haben die Menschen ein Recht auf gutes Brot
Erbel freut sich über diese Anerkennung. Aber man hat nicht den Eindruck, dass sie fundamental für ihn oder seinen Betrieb ist. Der Bohei, der dieser Tage vor allem in den Städten um handwerklich hergestelltes Brot gemacht wird, scheint ihm bei aller Liebe zur Qualität fremd. Wichtig sind andere Dinge. Der Vater zum Beispiel, der gerade mit dem VW-Bus über die Dörfer zuckelt, in denen sonst niemand mehr Backwaren verkauft.
Nicht nur Feinschmecker in der Großstadt, auch die auf dem Land haben schließlich ein Recht auf gutes Brot! Wichtig ist auch der Fachwerkgiebel der Scheune, der über die Jahrhunderte in Schieflage geraten ist und jetzt neu gemacht werden muss, so wie ohnehin immer irgendein Balken einzuziehen, ein Boden aufzureißen, eine Mauer zu setzen oder einfach nur eine Katze zu füttern ist auf den 1.500 Quadratmetern Hof, ohne den es all das, was vorne verkauft wird, gar nicht gäbe.
Wichtig ist Erbel aber vor allem das ewige Tun am Teig. Das Forschen, Ausprobieren, Verändern. Die permanente Auseinandersetzung mit der Materie. Schon am Telefon hatte er mir erzählt, er verfolge gerade diese neue Idee. Neulich habe er im Gasthaus einen Rehbraten gegessen. Preiselbeeren seien dabei gewesen, und die hätten auf einer Birnenhälfte gelegen. „Aus der Dose! Dabei stand vorm Haus ein prall behangener Birnbaum.“
Bald war er in seinen Gedankenspiralen beim eigenen Betrieb angelangt. „Gerade ist Obst in rauen Mengen da. Da dachte ich mir: Wie wäre es mit einem Lebkuchen, bei dem wir das Orangeat durch regionale Hutzelbirnen austauschen?“ Das sind Dörrbirnen, die früher in verschiedenen Regionen Bayerns und Baden-Württembergs verbreitet waren.
Heute bauen nur noch wenige Bauern sie an, Erbel kauft seine im unterfränkischen Fatschenbrunn. Hutzelbirnen sind hart und trocken. Und während Orangeat backfertig angeliefert wird, benötigen sie eine Menge Zuwendung. „Ich muss den Stiel wegschneiden, sie mit dem Messer zerkleinern und anschließend überbrühen, damit sie wieder Wasser nehmen. Und dann muss ich sie durch den Fleischwolf lassen.“
Jetzt aber schnell in die Backstube. Wir stehen mit der Bäckerin Daniela Wohlleb am Rührgerät. Sie schlägt Eischnee auf, gibt eine Masse aus Hutzelbirnen und Marzipan hinzu, anschließend Mehl, Ammoniumbicarbonat, Nüsse und Gewürze. „Wir verwenden ein Type-405-Dinkelmehl vom Charly aus dem Aischgrund, das eigens für uns gemahlen wird“, erklärt Erbel, während die einzelnen Zutaten sich zu einer streichfähigen Masse verbinden.
Manchmal erinnert die Zubereitung eher an einen Spitzenkoch als an einen Konditor
Das Rezept darf ich nicht fotografieren, ein bisschen etwas verrät Erbel später: Ein Teil der Haselnüsse wird geröstet und die eigene Mischung an Gewürzen über die Jahre immer wieder angepasst. „Der Körper ist Zimt. Dann brauchen wir Muskat, Anis, Ingwer, Nelke, Piment, Kardamom. Der macht alles ein bisschen leichter.“
Von Muskat und Zimt finden nicht nur Nuss und Stange, sondern auch die Blüten ihren Weg in den Teig. Wenn Erbel über die jeweiligen Verhältnisse und die daraus resultierenden geschmacklichen Unterschiede redet, erinnert das eher an einen Spitzenkoch als an einen Bäcker und Konditor.
Nach der Mittagspause wird Daniela Wohlleb von Maki Taniyama abgelöst. Die Japanerin ist seit zwei Jahren bei Arnd Erbel, lernt Konditorin. Sie formt mit der Hand kleine Ballen zu je 100 Gramm. Diese werden mitsamt Oblate auf ein grünes Metallpodest gelegt. Die Masse wird darauf mit einem konkaven Schaber in die klassische Lebkuchenform gezogen.
„Als ich dieses grüne Ding für 143 Mark gekauft habe, hat der Vater gefragt, ob ich die Firma ruinieren will“, erzählt Erbel und lacht. Der Erwähnte, mittlerweile 86 Jahre alt, beginnt in diesem Moment mit der Herstellung von „weißen Lebkuchen“, einer Variante, bei der ein guter Schuss Zwetschgenwasser elementarer Bestandteil ist.
60.000 Lebkuchen, so schätzt Erbel, verlassen Jahr für Jahr ab Oktober seine Backstube. So regional verwurzelt sie rund um Nürnberg sein mögen, die meisten kleinen Betriebe stellen keine mehr her, so Erbel. „Man muss schon einen Hang zur Feinbäckerei haben. Wer dafür keine Leidenschaft empfindet, lässt da die Finger davon.“
Es gibt kein Reinheitsgebot für den Elisenlebkuchen
Kurzer Zahlenvergleich: Die Firma Lebkuchen-Schmidt aus Nürnberg, die im Winter ganz Deutschland mit ihren Verkaufsstellen überzieht, produziert täglich bis zu drei Millionen Stück. Der zweite große Hersteller Haeberlein-Metzger gehört mittlerweile zum Lebensmittelmulti Lambertz. Optisch könnte man zumindest bei einem flüchtigen Blick derlei Industrieware mit den Erbel-Lebkuchen verwechseln.
Schaut man auf die Zutatenlisten, fällt indes auf: Die sind länger als beim Erbel. Invertzucker findet sich da, Sorbit, Erbsenprotein und Gummi Arabicum. Und was verbirgt sich wohl hinter dem Begriff „natürliches Aroma“? Der Begriff Elisenlebkuchen mag reglementiert sein. Einem Reinheitsgebot folgt das Backwerk nicht.
Draußen ist es längst dunkel geworden, Erbel lässt den nächsten Espresso aus der Siebträgermaschine. Der Sohn, ebenfalls Bäckermeister, hat in der Zwischenzeit unsere Charge an Lebkuchen in den Ofen geschoben. Nach einer Viertelstunde sind sie fertig, müssen nur noch auskühlen.
Danach taucht Arnd Erbel sie ins Schokobad und zieht sie mit einem Pinsel ab. „Die Schokolade ist maximales Level“, sagt er über die 60-prozentige Kuvertüre von Choba-Choba, einer Schweizer Marke, die im Besitz von peruanischen Kakaobauern ist. Weich schmeckt sie, fruchtig.
Die eigentliche geschmackliche Überraschung ist indes die Hutzelbirne. Sie steht dem Orangeat in nichts nach. Ideen von Dattel und Feige fliegen über die Zunge, aber auch die Vorstellung, dass man diese Lebkuchen gut zu Käse essen könnte. Sie scheinen weniger süß, was daran liegen mag, dass die Birne mehr Säure besitzt als Orangeat. Und: Man erkennt eine leicht stückige, an Früchtebrot erinnernde Struktur, die daher rührt, dass die Kerne mitverarbeitet werden.
Wo Erbel den ganzen Tag wie ein Flummi unterwegs war, ist er jetzt bei sich. Er ist zufrieden mit dem, was da vor ihm liegt. „Man hat einen Gedanken. Und dann macht man’s halt“, sagte er morgens und erzählte davon, dass er niemals an den schnellen Erfolg denke, sondern daran, ob etwas auch der nächsten Generation helfen würde.
„Manche nennen das nachhaltig. Aber wir verwenden solche Worte eigentlich nicht. Wir machen das ja schon immer so“, sagt er, bevor er mich wieder zum Bahnhof chauffiert, nicht ohne mir noch einige Lebkuchen einzupacken. Meinen alten Favoriten, die klassische Elise. Und den mit den Hutzelbirnen, die der neue werden könnte. Ich werde noch lange davon zehren.
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