Electro-Swing: Im Sog der Zwanziger
Von wegen Uroma-Musik: In Clubs wird wieder Swing gespielt – jetzt in der elektronisch aufgemotzten Variante. Dahinter steckt der Ruf nach Freiheit, Rebellion und freier Liebe.
Ob im Kreuzberger "Electro-Swing-Club" oder bei der "Bohème Sauvage"-Nacht im Hamburger Partybunker "Übel und Gefährlich": Der Herr trägt wieder Hut und Hosenträger, die Dame Plastikperlenketten zum Kleid mit tiefgesetzter Taille. Sie verdreht die Beine im Charlestonschritt, er nippt an tiefgrüner Flüssigkeit, die an Absinth erinnern soll. An den Wänden flackern fast hundert Jahre alte Schwarz-Weiß-Filme, LED-Scheinwerfer verschwinden hinter samtenen Lampenschirmen. Aus den Lautsprechern knarzen Benny Goodman, Artie Shaw und Django Reinhardt. Das Großstadtpublikum um die zwanzig hört die Musik der Urgroßeltern.
Doch wuchtige Bläsersätze und schräge Geigen allein reichen nicht aus für die richtige Partystimmung: ins Retrogefühl mischt sich der Hipnessfaktor des aktuellen Jahrzehnts. Die Jazz-Klassiker aus den 1920er, 30er und 40er Jahren verschmelzen mit Beats und Scratchelementen, das Klarinettensolo wird eingebettet in aktuelle Klänge aus dem HipHop oder Drum 'n' Bass. Klassischen Big-Band-Sounds erfahren eine elektronische Verjüngungskur.
Das neue Genre verschaffte sich sogar einen Platz im Lady-Gaga-Kosmos der Mainstreamcharts. Die australische Band Yolanda Be Cool belegte im letzten Sommer fast acht Wochen lang mit dem Song "We no speak Americano" Platz eins der Hitliste des Musiksenders MTV. Das Original stammt zwar aus den Fünfzigern, das Prinzip ist allerdings das Gleiche: Jazzige Soli werden mit elektronischen Housebeats aufgemotzt, dazu ein Musikvideo im Stummfilm-Stil.
"Die Zeit des minimalistischen Bassgeschredders ist vorbei"
Während einige den Electro-Swing als eine vorübergehende Modeerscheinung belächeln, sieht der Wiener DJ dunkelbunt, alias Ulf Lindemann, darin tatsächlich einen musikalischen Zukunftstrend. "Die Zeit des minimalistischen Bassgeschredders ist für viele einfach vorbei, die Leute wollen wieder mehr Information in einem Stück, also komplexere Melodien und wechselnde Grooves", sagt er. Er hat schon Ende der 90er den Mix aus Schellackplatte und MP3 für sich entdeckt. Damals kamen nur ein paar Dutzend Eingeweihte zu seinen Parties. Heute verdient er damit richtig Geld.
Auch der Hamburger Musiker und DJ Nils Hoffmann hat vor zehn Jahren damit angefangen, Electro-Swing-Tracks aus seinen alten Jazzplatten zu produzieren. Der Swing eigne sich schon rein rhythmisch perfekt als Tanzmusik. Das sei schon in den Dreißigerjahren so gewesen und heute nicht anders. Denn "der Swing besteht oft aus Triolen, die Betonung liegt dabei auf der Zählzeit eins und drei", erklärt er. "Das gibt der Musik dieses Schwingende, Mitreißende. Das ist für heutige Ohren, die sonst die Zwei-und-Vier-Betonung aus der Popmusik gewohnt sind, eine richtige Wohltat."
Außerdem betrachte er es schon lange als ein Erfolgsgeheimnis, "elektronische Musik als Sprache der Neuzeit mit Zitaten der Musikgeschichte zu kombinieren", so Hoffmann. Dem Electro-Swing ging nämlich eine andere äußerst erfolgreiche Welle des Retro-und Folklore-Mixes voraus: Der sogenannte Balkan Beat brachte mit elektronisch unterlegter traditioneller Musik aus Südosteuropa das Partyvolk im Westen zum ausgelassenen Tanzen.
Balkanmusik und Swing haben musikalisch extrem viel gemeinsam, erklärt Musiker Nils Hoffmann - noch heute finden sich auf jedem Electro-Swing-Sampler Stücke mit Titeln wie "Gypsie-Swing" oder "Gypsie-Doodle". Als Übervater dieser musikalischen Allianz gilt Gitarrenheld Django Reinhardt, der vor über achtzig Jahren Roma-Folklore mit Swing vermischte.
Musik plus Drumherum
Eine der ältesten Filmaufnahmen von Swing-Tanz: Hellzapoppin' (1941)
***
Einer der Pioniere des Electro-Swing, Parov Stelar, mit dem Song Catgroove
***
Electro-Swing vom Feinsten: Der dritte Raum mit Swing Bop
Verbreitet hat sich die neue Musikrichtung des Electro-Swings zunächst über Blogs und Musikplattformen im Internet - bis sie auch im Musikmekka London und der Jazzhochburg Paris populär wurden. Hier trafen sich schon Mitte der Neunziger Swingfans zu den ersten Zwanziger-Jahre-Motto-Parties in Clubs. Die französische Plattenfirma Wagram wurde vor ungefähr zwei Jahren hellhörig und witterte eine neue Marktlücke auf dem nach Trends hungernden CD-Markt: Als erstes großes Label veröffentlichte Wagram die musikalischen Perlen von Bands und Musikern wie Caravan Palace, Belleruche und Parov Stelar in einer Compilation-Reihe. Und erfand dafür den griffigen Namen "Electro-Swing Fever". Seitdem folgt in Frankreich eine Neuauflage dieser Sampler auf die andere. Größere deutsche Labels halten sich noch zurück.
Wagram-Sprecher Olivier Delachanal ist hingegen überzeugt, dass sich der Electro-Swing in den Clubs und Charts halten wird. "Das ist eine Musik, zu der jeder leicht Zugang hat", sagt Delachanal. "Sie hat diese interessante Revivalseite und strahlt gleichzeitig Modernität aus. Wenn der DJ auf einer Party Electroswing auflegt, funktioniert das beim Publikum immer." Hinzu komme das ganze Drumherum bei den Electro-Swing-Parties, die Verkleidung im Stil der Zwanziger, die Burlesque-Tänzerinnen, die mondän anmutenden Zigarettenspitzen.
Wagram fördert deshalb auch das Pariser Musiker- und Produzenten-Duo Bart and Baker, die auf ihren eigenen Partys in großen Pariser Clubs neben Swing-Originalen auch reichlich Electro-Swing auflegen. Dieses "erlebbare Gesamtkonzept" helfe beim Verkauf der Sampler ungemein, sagt Delachanal.
Auch DJs wie Ulf Lindemann wissen um den Sog, den das Retrogefühl auslöst. "Es ist sicher so eine Traumzeit", sagt er. Wenn er und seine Freunde die Original-Aufnahmen hinter den Beats hörten, dann käme schon der Wunsch auf, in dieser Zeit gelebt zu haben. "Man spürt den Ruf nach Freiheit, Rebellion und freier Liebe in dieser Musik. Allein, was da politisch los war, die Wirtschaftskrise, der Aufbau des Dritten Reichs, das sind alles Multiplikatoren, die Emotionen und eine gewissen Tiefe hervorrufen. Da hat sich etwas aus dem Schmerz heraus entwickelt und das interessiert die Leute auch heute noch."
"Das sind doch alles nur Klischees"
Ralf von Appen ist Musikwissenschaftler an der Uni Gießen. Er kann mit dieser Sehnsucht nach einem vermeintlichen Lebensgefühl so gar nichts anfangen. Die Blütezeit des Swing sei ja gar nicht in den Zwanzigern, sondern eher in den Dreißigern bis in die Fünfziger zu verorten, moniert von Appen. "Da wird einfach sehr sorglos kombiniert aus der gesamten Zeit. Das Lebensgefühl der Zwanziger, wie soll man das denn auf einen Nenner bringen? Was wissen wir denn davon, waren das die Goldenen Zwanziger oder der Tanz auf dem Vulkan? Das sind doch alles nur Klischees, eine ahnungslose Projektion auf die damalige Zeit."
Von Appen sieht deshalb im Electro-Swing nichts weiter als eine neue Vermarktungsmasche der Musikindustrie. "Ich halte das für eine typische Entwicklung unserer Zeit, wenn man will, kann man das als postmodern bezeichnen. Eine Entwicklung wird nicht durch einen innovativen Fortschritt gekennzeichnet, sondern irgendeine alte Nische wird ausgegraben und woanders wieder eingeklebt, ohne dass es jetzt wichtig wäre, wo genau das herkommt."
Dass hinter dem Kombinieren alter und neuer Musikstile eine gewisse Sorglosigkeit steht, will Musiker Nils Hoffmann gar nicht bestreiten. Aber er widerspricht dem Musikwissenschaftler vor allem in einem Punkt: Das wirklich Neue, Einzigartige liege immer in der Komposition, sagt er. Und Electro-Swing sei eine innovative Weiterentwicklung von vielen. "Auch ein revolutionärer Johann Sebastian Bach kannte sich mit der Musik seiner Vorgänger sehr gut aus. Kein Komponist wird irgendwas aus dem luftleeren Raum völlig neu erfinden können. Aber es geht immer darum, dass man substanziell Neues hinzufügt, und das ist beim Electro-Swing zweifelsfrei zu erkennen."
Übrigens verteufelte Adorno schon im Jahr 1936 den Ur-Swing von Count Basie, Benny Goodman und Co als einfallslose Unterhaltungsmusik, angetrieben von einer vermarktungsorientierten Kulturindustrie. Das Publikum hat einfach weitergetanzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus